Die Insel der Krieger
schwieg so lange, dass er schon glaubte, seine Frage habe sie verärgert. »Ich kon n te Xatrak nicht alleine lassen«, erklärte sie dann schlicht. »Man sagt sich seit jeher, dass nichts, was Kijerta betritt, die Insel jemals ganz verlässt. Und wenn ich ganz alleine auf der Klippe an Xatraks Grab stehe, dann bin ich sicher, dass er bei mir ist. Ich konnte ihn nicht einfach zurüc k lassen. « Mit dieser Erklärung wandte sich Kaya wieder der Tür zu. »Eine letzte Frage noch«, rief Nalig rasch, ehe sie hinausging. »Gibt es im Tempel einen goldgerahmten Spiegel mit roten und blauen Ste i nen? « Kaya schien über die Frage erstaunt. »Dieser Spiegel gehörte meinem Vater. Er befindet sich noch heute in seinem Zimmer. « »Mariks Zimmer? « , fragte Nalig begierig. »Könnte ich mich einmal dort umsehen? « »Natürlich. Es liegt gleich neben meinem. « Damit verschwand die Göttin endgültig. Nach all den neuen Erkenntnissen konnte Nalig unmöglich untätig bleiben, auch wenn ihm etwas Ruhe gutgetan hätte. Deshalb machte er sich auf zu Mariks Zimmer. Die schlichte hölzerne Tür hätte nicht vermuten lassen, dass dahinter die Räumlichkeiten eines Gottes lagen. Obwohl der Junge Kayas Erlau b nis hatte, sich den Raum anzusehen, fühlte er sich nicht wohl dabei, auch wenn der Gott schon lange tot war. Wie Kayas Zimmer war auch das Mariks nicht besonders groß. Es sah genauso aus, wie das Orakel es gezeigt hatte. Seit Marik das letzte Mal durch diese Tür getreten war, hatte man nichts mehr verändert. Die Einrichtung war sehr schlicht und nur auf das Wesentlichste beschränkt. Es gab einen Tisch, ein Bett und ein paar Stühle. Mitten im Raum stand eine goldene Sitzstange, die zweifellos als Schlafplatz für Mariks Begleiter gedient hatte. Der Spi e gel, welcher der Grund für Naligs Kommen war, hing ebenfalls unve r ändert an der Wand neben dem Fenster. Gespannt trat der Junge näher und klappte ihn zur Seite. In der Nische dahinter lag tatsächlich ein zusammengerolltes Blatt Pergament. Nalig nahm es zur Hand und entrollte es vorsichtig. Es war beinahe schon, als kenne er den Gott wirklich. Seine Schrift und sein Wortlaut wirkten so vertraut, als Nalig las, was er geschrieben hatte: Ich schreibe diese Zeilen für den Fall, dass es mir nicht gelingen sollte, das Grauen für immer in die Hölle zu schicken, der es entstammt. Für denjenigen, an dem es sein wird, den Kampf wieder aufzunehmen, will ich alles niederschreiben, was ich über die finstere Macht weiß. Ich beginne mit dem schmerzlichsten aller Ereignisse, die sich in dieser Sache zugetragen haben – der grausamen Tat meines Bruders. Was ihn dazu bewogen hat, seinen eigenen und einzigen Sohn zu töten, weiß ich nicht. Doch bin ich mir heute sicher, dass erst diese Tat das Grauen wachgerufen hat. Seither nährt es sich von allen schlechten Gefühlen der Bewohner Kijertas. Es scheint zudem Kraft aus Orten zu beziehen, an denen Schreckliches geschehen ist. Ich bin inzwischen sicher, dass unser aller Urvater schon zu seiner Zeit gegen das Grauen kämpfte. Es scheint mir die gleiche böse Macht zu sein, die damals Mariks Geliebte Kijerta entführte und dessen Bekämpfung schließlich sein Leben forderte. Über die Herkunft des Grauens glaube ich zu wissen, dass es erst durch Mariks Niedergang auf die Erde nach Kijerta kam. Wenn eine gute Kraft, die so stark ist wie die Mariks, Mensch wird, erschient es dann nicht beinahe zwingend, dass mit ihm auch ein böser Gegenpart den Fuß auf die Erde setzt? Nun hat das Grauen Zari entführt und es scheint, als wäre es mein Vermächtnis, den Kampf fortzuführen und das Grauen endgültig zu vernichten. Auf welche Weise ich dies bewerkstelligen soll, werde ich hoffentlich erkennen, wenn die Zeit gekommen ist. Das Grauen ist stark. Es erscheint in Gestalt derer, die mir am meisten bedeuten und setzt meine tiefsten Ängste als Waffe gegen mich ein. Die Insel zu verlassen war eine weise Entscheidung der anderen. Nicht nur, weil das Fehlen, zu menschlichen Gefühlen befähigter Wesen, dem Grauen die Nahrung entzieht, sondern auch, weil sich Ereignisse auf Kijerta zutragen, die nicht mehr mit Vernunft zu erklären sind. Dinge verschwinden ganz plötzlich und ich bin nicht so töricht, wie viele andere zu glauben, dass sie einfach verloren gegangen sind. Denn wie kann man den Inhalt eines Buches oder einen ganzen Raum verlieren? Und es ist nicht nur das. Ein halbes Dutzend Götter ist inzwischen wie vom Erdboden verschluckt.
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