Die Insel der Krieger
ihm aus dem Geschichtsbuch vorzulesen. So hatte er wenigstens ein klein wenig Ahnung und konnte einige von Stellas Sticheleien erwidern und die anderen ignorieren.
Ilia schlenderte wie so oft am See entlang. Schwarz und geheimni s voll spiegelte er das Sonnenlicht. Wie schon vor zwei Jahren, als ihr Bruder seinen Weg zur Insel angetreten hatte, erschien es ihr falsch, dass der See unverändert geblieben war. Was genau sie erwartete, konnte sie selbst nicht sagen. Doch es fehlte ihr ein Zeichen des Ve r lustes, den sie erlitten hatte. Ebenso schien es Naligs Vater zu ergehen. Wie jeden Tag saß er am Ufer, den Blick starr auf die spiegelglatte Wasseroberfläche gerichtet. Seit Naligs Verschwinden war kein Tag vergangen, den er nicht hier verbracht hatte. Er schien nur bei Nacht den See zu verlassen, vernachlässigte seine Arbeit, seinen Hof und auch sich selbst. Schweigend blieb das Mädchen drei Schritte von ihm entfernt stehen. Es wehte ein sanfter Wind und nichts erinnerte mehr an den Sturm, der losgebrochen war, kurz nachdem Nalig das Boot bestiegen hatte, als die umgeknickten Bäume und Sträucher am Wal d rand. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass er weg ist«, sagte der Mann ganz unvermittelt, als Ilia schon weitergehen wollte. »Das ve r stehe ich. « »Manchmal, wenn ich morgens aufstehe, bin ich fast sicher, dass er in der Küche oder draußen auf den Feldern ist. « »Es wird be s ser mit der Zeit«, versicherte Ilia. »Ich möchte gar nicht, dass es besser wird. Ich will nicht, dass er in Vergessenheit gerät. « »Aber es wird ihm nicht helfen, wenn Ihr jeden Tag hierher kommt und alles, wofür Ihr gearbeitet habt, dem Verfall anheim fällt und es wird auch Euch nicht helfen. « »Alles, wofür ich gearbeitet habe, erscheint mir so überflüssig, jetzt, da ich allein bin. « Ilia wollte noch etwas sagen, doch ein steche n der Schmerz in ihrem Bauch hielt sie davon ab. Sie krümmte sich zusammen und presste die Arme auf die schmerzende Stelle. Naligs Vater erhob sich und eilte zu ihr, um sie zu stützen, wusste jedoch nicht recht, was er tun sollte. »Geht es dir gut? « , fragte er unsicher. »Ich fühle mich heute nicht besonders wohl«, erwiderte sie, was alle r dings nicht die ganze Wahrheit war. Sie hatte diese Schmerzen schon seit einigen Tagen und dazu ein Gefühl von Übelkeit, das sie ständig begleitete. Dankbar ließ sie sich von Naligs Vater zurück ins Dorf bringen.
Der Regelbruch
» D u wirkst so bedrückt«, meinte Arkas besorgt, als er Nalig wie g e wohnt zum Frühstück abholte. »Ich habe letzte Nacht von meinem Dorf geträumt«, erklärte Nalig. Arkas blickte ihn forschend an. »Und was hast du geträumt? « »Von meinem Vater und dem See und einem Mädchen, das ich kannte… Ich glaube, es geht ihnen nicht gut. « Z ö gernd blickte Arkas zur Treppe. »Möchtest du vielleicht das Frühstück heute lieber ausfallen lassen? « »Ist das denn in Ordnung? « »Niemand kann dich zwingen«, erwiderte Arkas. Nino hüpfte von seinem Kopf auf Naligs Schulter, um ihm aufmunternd die Wange zu lecken, doch sein Falke kreischte wütend auf seiner anderen Schulter und hackte nach dem Lemuren, der sich daraufhin erneut unter Arkas’ Kleidung versteckte. »Na komm«, forderte Arkas Nalig auf und wies mit einem Kopfnicken zu seinem Zimmer, die Arme um die Beule unter seinem Wams gelegt. Nalig setzte sich auf Arkas’ Bett und betrachtete seine Hände, die auf seinen Knien ruhten. Die rechte, unversehrte, und die linke mit dem fehlenden Finger. Inzwischen hatte er sich schon fast an den Anblick gewöhnt. »Warum bist du damals freiwillig auf dieser Insel geblieben? « , wollte er von Arkas wissen. »Als ich wusste, dass mein Bruder für immer hierbleiben würde, gab es für mich keinen Grund, zurück in mein Dorf zu gehen. « »Aber gab es dort denn ni e manden, der dir wichtig war? « »Nein, eigentlich war Greon immer derjenige, den alle mochten. Alle Jungen im Dorf blickten zu ihm auf und er war bei fast allen Mädchen beliebt. « »Aber hast du dich nie gefragt, was aus deinen Eltern und deinem Zuhause geworden ist? « »Kijerta ist jetzt mein Zuhause und meinen Eltern geht es sicher gut. Aber warum willst du das wissen? Heißt das, du möchtest in dein Dorf zurück? « Nalig schaute aus dem Fenster. »Nicht unbedingt. Was mich stört, ist, dass alle glauben, ich sei tot. « »Glaubst du denn, es wäre für deinen Vater leichter, wenn er wüsste, dass du lebst? Denkst du nicht, es ist noch
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