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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
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Besitztümer zu erwerben.
    (Seine Orgel wurde Sheng genannt und ist seither ein Standardinstrument der Orchestermusik. Sie
strapaziert die Lunge außerordentlich, weil die Töne durch Einatmen erzeugt
werden. Einem Gerücht zufolge soll noch kein großer Sheng-Meister älter als
vierzig Jahre geworden sein. Ein Spieler erhält schon allein dadurch heftigen
Beifall, wird beworfen mit Blumenbuketts von reizenden Damen, die nicht selten
hinterherfolgen, wenn er nur im Spiel innehält, um zu husten und sich dann mit
einem rougegetränkten Taschentuch über die Lippen zu wischen. Und wenn es die
übrigen Orchestermitglieder schließlich nicht mehr ertragen, werfen sie ihre
Instrumente von sich und stürzen sich mit Klauen und Krallen auf den Bastard.)
    Die Höhle wurde als Yu
bekannt, zuerst im Volksmund und schließlich auch in der offiziellen Sprache,
denn Yu ist ein legendärer Kaiser, von dem es heißt, daß er die
Musikinstrumente erfunden hat, die Fu-hsi nicht erdachte. Sie gab die
Sonnenwenden weiterhin mit unglaublicher Genauigkeit an, da aber niemand hinter
den Sinn und Zweck kam, gehörte das Phänomen bald zu Peking wie die Bottiche
mit den süß-sauren Marinaden, der rote Ziegelstaub, die gelben Sandstürme und
der Mandarindialekt. Nun legten wir im Schatten des Felsens mit der berühmten
Höhle an, der wie eine Riesenhand vor uns aus dem Wasser ragte. Ich folgte
Meister Li auf dem Pfad, der durch dichtes Buschwerk zum Eingang der Höhle
führte. Als er stehenblieb und das Schilfrohr beiseite schob, sprang ich mit
einem lauten Schrei zurück. »Verblüffend, nicht wahr ?« bemerkte er.
    »Ich finde, unheimlich wäre
das passende Wort«, sagte ich, als ich die Sprache wiedergefunden hatte.
    Es war nur eine alte
Steinstatue, doch im ersten Moment wirkte sie lebendig. Sie stellte ein Wesen
dar, das halb Mensch, halb Echse war, geduckt und fauchend, am offenstehenden
Maul die gezackten Reste einer langen Zunge, die abgebrochen war. Das Gesicht
war wutverzerrt und haßerfüllt. Auf dem Weg hinauf zeigte mir Meister Li zehn
weitere dieser bizarren Figuren, von denen auch die menschlichste noch
unvorstellbar scheußlich war. »Ochse, seltsamerweise gibt es Kunstliebhaber,
die diese Statuen als überaus schön empfinden«, erklärte Meister Li. »Ob ihre
Schöpfer sie für schön oder häßlich hielten, ist nicht zu sagen, aber im Grunde
spielt das auch keine Rolle. Es sind Abbildungen von niederen Gottheiten, von
Dämonengöttern, und wenn wir und der Himmlische Meister nicht Opfer
außergewöhnlicher Sinnestäuschungen geworden sind, haben wir Geschöpfe dieser
Art mit eigenen Augen gesehen .«
    Ich dachte an den
einbeinigen Glockenspieler, den affengesichti-gen Räuber und den kleinen,
flammenwerfenden Greis des Himmlischen Meisters, aber besonders an das
leichenfressende Ungeheuer. »Kann ein solches Wesen wirklich schön sein,
Meister ?« fragte ich.
    »Schön und furchtbar«,
antwortete er. »Unsere Vorfahren zogen durch dieses Land und vernichteten ein
Volk und seine Kultur. Dabei eigneten sie sich alles an, was sie interessierte
und formten es um. Von den Theologen wirst du erfahren, daß zur gleichen Zeit
im Himmel ein Umsturz stattfand, in dessen Verlauf alte Götter unbarmherzig
gestürzt und neue Platz nahmen, während die gefährlichsten und mächtigsten
unter ihnen besänftigt wurden mit Titeln und Ehrungen und in das Pantheon
aufgenommen wurden.
    Ich hatte nicht annähernd
das Wissen und die Erfahrung, um die Aufregung zu verstehen, die Meister Lis
Gesicht um vierzig Jahre verjüngten, aber etwas von seiner Spannung übertrug
sich auf mich.
    »Ochse, hier auf der
Hortensien-Insel und an einigen wenigen Orten haben die letzten großen Künstler
eines ausgestorbenen Geschlechts noch einmal ihre Meißel zur Hand genommen. Man
nimmt an, daß sie sich mit Fasten geißelten, wie dies bei unseren Vorfahren
üblich war«, sagte Meister Li wehmütig. »Man nimmt an, daß sie schon in Trance
ihren Göttern noch huldigten und sie im Todeskampf in Stein verewigten. Du
siehst hier das Seelenbildnis eines ausgestorbenen Geschlechts mit Parallelen
zu unseren jüngsten Erlebnissen. Einige der alten Götter mußten natürlich
überleben. Sie machen sich bemerkbar! Sie erwachen aus ihrem langen Schlaf, und
du und ich, wir stecken mittendrin im Geschehen! Ochse, ich komme mir vor wie
einer, der sich immer darüber beklagt hat, daß er für das Zeitalter der Riesen
zu spät geboren ist, bis eines Tages die Luft unter einem
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