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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine
Autoren: Barry Hughart
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übertrieben
bildhaft, aber nicht schlecht«, bemerkte Meister Li.
    5
    Wir machten in Meister Lis
Hütte in der kleinen Gasse halt, um bequemere Kleider anzuziehen und um den
alten Käfig zu verstekken. Dann kochte ich Reis und ging hinaus, um einen
Händler zu suchen, der die scharfe, vergorene Fischsoße verkaufte, die wir
beide so mögen. Wir hatten seit dreißig Stunden nicht mehr geschlafen, waren
aber so sehr mit unserem Fall beschäftigt, daß keine Müdigkeit aufkam. Kurze
Zeit später legte ich mich bereits wieder in die Riemen und steuerte uns zur
Hortensien-Insel zurück.
    Ich war noch nie auf der Yu
gewesen. Diese Insel ist Mandarinengebiet, und der Besuch, von dem ich zuvor
berichtet habe, war mein erster dort gewesen. Doch bevor ich die Yu beschreibe,
will ich einige Erläuterungen geben:
    Die Geschichte Chinas
verzeichnet einige große Überschwemmungen, und eine davon hatte - vor ein paar
tausend Jahren - zur Folge, daß die Große Ebene von Peking unter einer dreißig
Fuß dicken Schicht aus Schlamm und Schlick verschwand. Die Stadt, die Peking
werden sollte, wurde in Etappen auf der verkrusteten Oberfläche errichtet, bis
Geomantiker zu der Erkenntnis kamen, daß zu viel Gewicht auf das männliche
Element des Yang und zu wenig auf das weibliche Element des Yin gelegt worden
war, ein Ungleichgewicht, das es zu beseitigen galt. Der schnellste Weg, das
Yin zu stärken, ist die Wassermethode, und so legte man den nördlichen, den
mittleren und den südlichen See an, indem man die verkrustete Erdoberfläche
aufgrub und die Vertiefungen mit Wasser füllte, das über Kanäle von den Flüssen
Hun und Sha herübergeleitet wurde. (Eigentlich werden sie Meere genannt, aber
ich finde das irreführend und bezeichne sie darum auf den folgenden Seiten als
    Seen.) Der Aushub aus
diesen Seen wurde aufgehäuft und zum Kohlenhügel festgestampft, und auf diese
Weise entstand der kostbarste Erdhügel der Welt. Während der Grabungen für den
nördlichen See stießen die Arbeiter auf einen massiven Felsen, den sie so
ließen, wie er war. Um ihn herum stieg das Wasser an, und nach einiger Zeit war
er von Erde bedeckt, und schöne, rot und blau blühende, von der Kannibalenküste
(Japan) importierte Sträucher wurden angepflanzt. So entstand die
Hortensien-Insel. Eines Tages, als der Wasserstand einen ganz bestimmten Pegel
erreicht hatte, geschah etwas Außergewöhnliches. Vom nördlichen See her war
plötzlich ein mächtiger Ton zu hören: bezaubernd schön, jedoch ohne erkennbare
Melodie. Es war wie der Klang eines riesigen Horns, nur hatte er in seinem
Wechselspiel zwischen Huang-chung und Ying-chung, der tiefsten
und der höchsten Note der pentatonischen Tonleiter, einen rauhen Beiklang. Der
unheimliche Ton hielt ungefähr eine Minute an. Dann verklang er und war erst sechs
Monate später wieder zu hören, woraufhin einige Gelehrte aufgeregt verkündeten,
daß der Ton offensichtlich genau zum Zeitpunkt der Sommer- und
Wintersonnenwende zu vernehmen war.
    Die Suche nach der Ursache
des Phänomens führte zu einer Höhle auf der Hortensien-Insel, gelegen in einem
Felsen, der auf der stadtwärts gerichteten Südseite aus dem Wasser ragte. Die
Höhle war bis dahin nur für ihre Felsmalereien und Reliefs bekannt gewesen,
aber nun verkündete ein junger Musikstudent, daß die Arbeiter, die die Höhle
freigelegt hatten, ein Musikinstrument gefunden hätten, das von den
Ureinwohnern des Landes als Sonnenwendanzeiger konstruiert worden war. Wozu sie
etwas Derartiges brauchten, wußte er allerdings nicht zu sagen. Durch eine
hundert Fuß dicke, massive Felsschicht führte ein Loch vom Höhlenboden in eine
tiefergelegene Kammer, die nach der Vorstellung des Studenten so etwas wie eine
Windlade sein mußte. Wenn das Wasser einen bestimmten Stand erreicht hatte und
Temperatur und Sonneneinfall entsprechend waren, entstand ein Druck, der dazu
führte, daß große Mengen Luft angesaugt wurden. Die Luft entwich durch ein
Netzwerk winziger Gänge nach oben durch die Höhlendecke.
    »Kurzum, die
Tunnelöffnungen über der Wasseroberfläche des Sees sind Windkanäle zum Ansaugen
der Luft, die tiefergelegene Höhle ist die Windlade, und die oberen Löcher sind
die Pfeifen. Es ist eine Orgel, nur daß sie vorwiegend durch Einatmen, nicht
durch Ausatmen funktioniert«, erklärte der Musikstudent, doch niemand schenkte
seinen Ausführungen Beachtung; daraufhin baute er ein Miniaturmodell und
verdiente damit genug Geld, um fürstliche
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