Die Insel der Mandarine
Meine Liebe, sehr zum Mißfallen
der Theologen haben ein Tao-shih und eine Schamanin vieles gemein, und sofern
ich mich bei eurer Rückkehr ein wenig kräftiger fühle, müssen wir uns einmal zu
einer langen Unterhaltung zusammensetzen .« Er segnete
uns und betete für eine sichere und erfolgreiche Reise. Die alte Dienerin hatte
die Liste der Befehle bereits gelernt und brachte den kleinen Affen dazu, uns
zum Abschied zu winken. Ich kann unseren Aufbruch nicht ausführlicher
beschreiben, weil ich unentwegt auf die Tochter des Puppenspielers starrte.
Ihr Name war Yu Lan.
Schamaninnen lernen ihre Kunst in sehr jungen Jahren, und ihre Lehrerin war
ihre Mutter gewesen. Ich kam mir außerordentlich unreif und unwissend vor, als
mir klar wurde, daß Yen Shihs Tochter - obwohl nicht älter als ich - bereits
eine anerkannte Priesterin des alten Wu-Kults war und sich auf schamanische
Geheimnisse und Zauberkünste verstand, von denen ich nicht einmal zu träumen
gewagt hätte. Sie lebte in einer unerreichbar viel höher gelegenen Welt als
ich, auch wenn wir physisch denselben Raum und dieselbe Umgebung teilten, doch
es war nichts Unfreundliches an ihr. Großgeschrieben und als Name bedeutet Yu
Lan Magnolie, aber kleingeschrieben und in einem anderen Zusammenhang
kann yu lan verstohlen lächeln heißen, und so begann ich sie zu sehen:
still, würdevoll, unerreichbar wie eine vorüberziehende Wolke, niemals jedoch
hochmütig, nie vorwurfsvoll, immer verstohlen lächelnd.
Sie arbeitete mit allen
anderen zusammen, um ihren Vater bei seinen Vorstellungen zu unterstützen, aber
an ihrem eigenen, ganz persönlichen Tun konnte niemand teilhaben. Ich erinnere
mich noch, wie wir ein Gebirge erreichten, in dessen dunklen Schluchten die
Menschen eines fremdartigen, wilden Volkes lebten. In jener Nacht erhob sich Yu
Lan plötzlich im Schein unseres Lagerfeuers und ging hinüber zum Rande der
Dunkelheit, wo ein Junge wie durch Zauberwerk aufgetaucht war. Er hatte braune
Haut und hohe, scharfgeschnittene Wangenknochen in seinem ausdruckslosen
Gesicht. Schweigend hielt er Yu Lan einen rindenlosen Zweig hin, in den Kerben
geritzt waren. Sie betrachtete die Kerben eingehend, dann forderte sie den
Jungen auf zu warten, und wenige Minuten später war sie in ein Gewand aus
Bärenfell gekleidet und verschwand, einen Behälter mit verschiedenen heiligen
Dingen unter dem Arm, mit dem Jungen in der Dunkelheit. Ihr Vater hatte die
ganze Zeit über nichts gesagt. Erst als sie fort war, bemerkte Yen Shih: »Ihre
Mutter verschwand manchmal tagelang, aber sie fand immer wieder zu mir, wenn
sie dazu bereit war .« Dann wechselte er das
Gesprächsthema.
Sie hatte sich jedoch nicht
weit entfernt. Später, als wir Vorbereitungen trafen, uns schlafen zu legen,
hörten wir von einer Anhöhe über uns klagende Gesänge, und dann rief eine hohe,
klare Stimme: »Hik !«
Meister Li murmelte gähnend
vor sich hin: »Der nächste Ton, den
wir hören werden, lautet:
Phat .«
»Meister ?« fragte ich.
»Phat !« hallte es vom Berggipfel herunter.
»Es ist tibetanisch. Sind
dir die tibetanischen Züge des Jungen nicht aufgefallen? Jemand ist gestorben,
und sie haben Yu Lan gebeten, die Seele sicher ins Jenseits zu geleiten«,
erklärte er. »Als erstes muß sie die Seele aus dem Körper befreien, was dadurch
geschieht, daß sie ein Loch in die Schädeldecke bohrt, durch das sie
hinausschlüpfen kann. Schamanen üben an sich selbst mit einem Strohhalm .« »Wie bitte?« »Schau her .«
Er zog ein Stück Stroh aus
seiner Matte und legte es sich sorgsam auf den Kopf. »Hik !« rief er dann, und ich starrte gebannt und mit hervorquellenden Augen auf den
Strohhalm, der zu beben und zu rutschen begann, als würde das untere Ende in
ein Loch gleiten. »Phat !« schrie er, und der Strohhalm
richtete sich kerzengerade auf. Theatralisch zog er das Ding aus dem Loch in
seinem Schädel und warf es weg.
»Ganz netter Trick, was ?« sagte er. »Yu Lan muß die Seele jetzt durch wilde
Gegenden führen, in denen Dämonen und Bestien hausen, und ihr dabei durch
Gebete und Gesänge Kraft geben. Sie wird die ganze Nacht damit beschäftigt
sein, leg dich also schlafen .«
Er drehte sich zur Seite
und fing bald darauf an, zu schnarchen, ich aber blieb noch Stunden wach und
hantierte wie blödsinnig mit einem Strohhalm herum. Ich habe nie gelernt, wie
es gemacht wird.
Aber ich greife mir selbst
voraus. Eigentlich wollte ich von unserem ersten. Abend unterwegs erzählen,
obwohl
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