Die Insel der Mandarine
groben Zügen die Geschichte, die er aus den alten
Bildern und Symbolen zu entziffern in der Lage war, weiter:
Vor langer Zeit, als man
die Schrift noch nicht entwickelt hatte, um die Ereignisse aufzuzeichnen,
kämpften barbarische Eindringlinge, aus denen später die Chinesen hervorgehen
sollten, mit den eingeborenen Bewohnern des Reiches der Mitte um die irdische
Vorherrschaft, und zur selben Zeit lieferten sich im Himmel die Götter des
alten und die des neuen Volkes eine Schlacht. Irgendwie schafften es die
Bewohner der Erde, beide himmlischen Parteien gegen sich aufzubringen. Deshalb
zogen sich die Götter, die normalerweise das irdische Tun bestimmen, zu den
himmlischen Schlachtfeldern zurück und überließen die Menschen sich selbst, mit
dem Erfolg, daß im Handumdrehen Chaos auf der Welt herrschte. Da die Menschen
wußten, daß sie in harmonischer Übereinstimmung mit den Kräften der Natur leben
müssen, schlössen sich die kriegführenden Könige zusammen und baten die größten
aller Zauberer und Schamanen, die Pa Neng Chih Shih, aus allen Ecken der
zivilisierten Welt herbeizukommen und die Angelegenheit in die Hand zu nehmen.
»Die Acht Gelehrten Herren
begannen ihr Wirken damit, daß sie die Könige anwiesen, etwas zu bauen«, fuhr
Meister Li fort. »Seht ihr das große Quadrat? Das bedeutet Erde oder aus Erde
gemacht. Ein Schnörkel ist eingeritzt, der auf einen Hohlraum darin hindeutet,
eine Höhle zum Beispiel, und diese dünnen Linien, die oben herausragen...«
»Pfeifen !« rief ich aufgeregt. »Sie ließen sich von den Königen das Musikinstrument des Yu
bauen !« »Das hoffe ich aufrichtig, denn es ist eine
reizende Vorstellung«, gab Meister Li mit sanfter Stimme zurück. »Außerdem
gaben sie zwei wundervolle Boote in Auftrag, eines davon Yang, das andere Yin.
Um den Pakt zu besiegeln - die Stelle ist mir nicht ganz klar, aber es scheint
sich um ein Gelöbnis zu handeln, das Mensch und Natur in harmonischer
Übereinstimmung verbinden sollte -, veranstalteten die Acht Gelehrten Herren
das aufsehenerregendste Bootsrennen der Geschichte.«
Mit den tödlichsten
Einsätzen, wie es schien. Der Yu wurde dazu benutzt, einen magischen
Wasserstrom zu erzeugen, auf dem das Rennen stattfand. Ein flammenglühender
Himmel deutete an, daß die Luft so heiß war, daß sie Feuer fing, wie in den
Zeiten, bevor der Schütze Yi neun der zehn Sonnen heruntergeschossen hatte.
Offenbar war der Einfluß des Yang unnatürlich stark. Wenn nun die Natur derart
im Ungleichgewicht ist, brechen Krankheiten aus, und die furchtbaren
Seuchenraben kreisten über den Booten. Unter den Acht Gelehrten Herren brodelte
das Wasser, die Wellen drohten sie zum Kentern zu bringen, grauenvolle
Ungeheuer griffen von den Ufern nach ihnen, und Seeschlangen bedrohten sie aus
der Tiefe. Das Yang-Boot war an der Spitze zu sehen, und die pestbringenden
Todesvögel stürzten sich herab...
»Und gerade an der Stelle,
an der es richtig spannend wird, bricht das Ganze ab«, bemerkte Meister Li
entrüstet. Dort, wo sich die letzten Reliefplatten befanden, hatte der Stein
dem Zahn der Zeit nicht standgehalten. Er war derartig verwittert, daß sich die
Tinte auf dem Reibedruck in kleinen Pfützen sammelte, verlief und sich
verwischte, und an manchen Stellen deutete nur noch eine Furche oder Kerbe an,
was einmal in den Stein gemeißelt worden sein mochte. Ganz am Ende dann ging
die weiche, verwitterte Fläche wieder in festeres Gestein über, und der Fries
wurde wieder sichtbar.
»Yin hat am Ende den Sieg
davongetragen«, erklärte Meister Li. »Seht ihr die schrägen Linien? Regen fällt
herab, die gebärende Kraft und das Symbol der Erneuerung, und das Boot hat an
einer Art Kai angelegt, wo es von Kuer-Geistern wimmelt. Was geschieht, ist
nicht ganz klar. Die Flammen am Himmel sind gelöscht, und die pestbringenden
Todesvögel ergreifen die Flucht. Es ist also anzunehmen, daß die Acht Gelehrten
Herren die Unterstützung von Geistern gewonnen haben, die das Gleichgewicht
verschoben. Immerhin bezeichnet der unbekannte Berichterstatter die Schiffe als
Geisterboote. Wenn der Himmlische Meister die Kraft seines Verstandes
nur für ein paar Stunden noch sammeln könnte !« stieß
der alte Mann leidenschaftlich hervor. »Er wäre imstande, die Verbindung
zwischen dieser Geschichte und den Dämonengöttern, die mit den Käfigen im
Zusammenhang stehen, herzustellen, vielleicht sogar zu ihrem Bruder Neid.
Darüber hinaus könnte er uns vielleicht
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