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Die Insel der Mandarine

Die Insel der Mandarine

Titel: Die Insel der Mandarine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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wartete, daß das Tor des Mittags
geöffnet und sie in die Verbotene Stadt eingelassen wurde: Es waren Aristokraten
in Sänften und blaugestrichenen Kutschen; Kaufleute in Eselswagen, auf deren
Leinwandplanen die Künste ihrer Insassen in roten, verschnörkelten Sprüchen
gepriesen wurden; Gelehrte, die demonstrativ kleinen Singvögeln lauschten, die
sie in Bambuskäfigen an langen Stöcken mit sich trugen; Bittsteller aller Art,
die kunstvoll zerfetzte Lumpen am Leib hatten, die die Gefahren ihrer Reise
dokumentieren sollten und Büffelhornlaternen schwenkten, um zu zeigen, daß sie
Tag und Nacht ohne Unterbrechung gereist waren; Legionen von Ministern,
Heerscharen von Beamten, Armeen von Buchhaltern. Gerüchte schwirrten durch die
Luft wie die Schwärme von Aasgeiern, die über einer Friedenskonferenz kreisen,
und führend auf der Liste war die Neuigkeit, daß es zum ersten Mal in tausend
Jahren vielleicht kein Drachenboot-Rennen geben würde. Dafür gab es vier
gewichtige Gründe.
    1. Sechs glaubwürdige
Mitglieder der Gerberzunft hatten einen weißen Vogel gesehen (Weiß ist die
Farbe der Trauer), der mit einem brennenden Kandelaber im Schnabel, genau der
Route, die das Rennen nehmen sollte, folgend, über den Nördlichen See geflogen
war.
    2. Zum selben
Zeitpunkt war am Kai der Bäckerzunft eine riesige Eidechse erschienen und hatte
Flammen auf ihr Boot gespien, so daß es bis auf ein Häufchen Asche
heruntergebrannt war.
    3. Der Geist von
Kaiser Wen war in die Lagerhalle der Salzmonopolgesellschaft marschiert, war
geradewegs durch den Rumpf ihres Drachenbootes geschritten und hatte dabei
geheult: Hütet euch vor dem fünften Tag des fünften Mondes
!
    4. Die Ärztezunft
hatte eine Erklärung abgegeben, in der alles oben Genannte als blühender
Aberglaube abgetan wurde. Kein Aberglaube dagegen waren die siebzehn Todesfälle
in den vergangenen sechsundneunzig Stunden, zurückzuführen auf eine Krankheit,
die einer Form der Pest verdächtig ähnlich war, und die Behörden würden gut
daran tun, alle Veranstaltungen abzusagen, die große Menschenansammlungen mit
sich brachten, wie zum Beispiel das Drachenboot-Rennen, bei dem sich die
Zuschauer dicht an dicht an den Ufern drängten.
    Und schließlich waren da
noch Meister Li und ich, die auf das Öffnen der Tore warteten, damit wir
hineingehen und uns auf gräßliche Weise von Li der Katze ins Jenseits befördern
lassen konnten.
    Es war kein angenehmes
Warten. Schmerz ist erträglich, weil er seine Grenzen hat. Der Körper erträgt
nur ein bestimmtes Maß, dann rettet er sich in den Schock. Aber ich hatte
genügend Zeit, um über schlaue Eunuchen und ihre kleinen Spielchen
nachzudenken, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich es aushalten würde,
mit den verstümmelten Überresten Yu Lans zusammen in einem Sack eingenäht zu
werden. Meister Li behielt, wie üblich, seine Gedanken für sich. An seiner
Miene war nicht zu erkennen, ob er Höllenqualen litt oder ob er sich langweilte,
und als die Tore endlich geöffnet wurden und wir in unserer Sänfte zum Palast
der Eunuchen getragen wurden, beschloß er, mich mit einem geistreichen
Reisebericht zu unterhalten und mich auf Dinge aufmerksam zu machen, die mich
eigentlich hätten interessieren müssen, da ich vermutlich in diesem Leben nicht
mehr viel zu sehen bekommen würde. Ich muß zugeben, daß nur wenig hängenblieb,
obwohl ich mich immerhin an das »schönste und traurigste Gefängnis der Welt«
erinnere, den Garten der Vertriebenen Lieblingsfrauen, in dem die kaiserlichen
Konkubinen, die nicht über die Mittel verfügten, die Eunuchen anständig zu
bestechen, ein Leben der Enthaltsamkeit fristen mußten, nachdem sie verleumdet
worden und in Ungnade gefallen waren. Einsame Frauen, die im Schatten des
Turmes der Herabregnenden Blüten schmachten mußten, einem hohen, weißen,
zylindrischen Bauwerk mit hellrotem Kuppeldach, von dessen Spitze eine Kaskade
weißer Oleanderblüten herunterströmt. »Die Feinsinnigkeit der Eierlosen wird
irgendwie überschätzt«, bemerkte Meister Li.
    Was sonst noch geschah, bis
der Palast der Eunuchen in Sicht kam, weiß ich nicht mehr. »Sieh dir das an,
mein Sohn! Wie schlau es die Eunuchen eingerichtet haben, daß ihre Behausung
den benachbarten Palast des Südlichen Dufts, in dem die Porträts der Kaiser
ausgestellt sind, um fünfzig Fuß überragt. Auf diese Weise thronen in China die
Kastrierten über den gekrönten Häuptern«, sagte der Weise, doch ich war nicht
in

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