Die Insel der Orchideen
erreichen wir ein Dorf am Fuß des Berges und können unseren Proviant aufstocken.« Er pfiff nach dem Jungen, der Leahs Sachen trug. Sie nahm ihm ihre Zeichenutensilien und einen selbstgezimmerten Feldstuhl ab, suchte sich einen guten Aussichtspunkt und begann zu arbeiten. Bertrand verschränkte die Hände hinter dem Rücken und beobachtete sie eine Weile lang wortlos, dann drehte er sich abrupt um und marschierte zum Waldrand.
Leah sah ihm nachdenklich hinterher. Nachdem sie im Fieberwahn unfreiwillig einige ihrer Geheimnisse gelüftet und später, bei klarem Verstand, all seine Illusionen über sie endgültig zerstört hatte, war sie davon überzeugt gewesen, er werde ihr Engagement im nächsten großen Hafen lösen. Mit einer gefallenen Frau durfte er sich nicht abgeben.
Sie hatte ihn unterschätzt. Eine Kündigung erwähnte er mit keinem Wort, stattdessen begegnete er ihr mit ausgesuchter Höflichkeit, ohne jemals wieder die delikate Angelegenheit anzusprechen. Ihre Gespräche drehten sich nur noch um ihre Funde und Beobachtungen, ansonsten mied er sie, soweit es möglich war. Leah seufzte. Die gewünschte Distanz war hergestellt, und dennoch war sie nicht glücklich mit der Situation. Ihrem Umgang miteinander war die Leichtigkeit abhandengekommen. Bertrand schien jedes seiner Worte auf die Goldwaage zu legen. Immer wieder ertappte sie ihn dabei, wie er sie stumm, beinahe ärgerlich betrachtete, doch was hinter seiner Stirn vorging, vermochte sie nicht zu sagen. Sie musste sich mit dem zufriedengeben, was sie hatte. Und das war, bei Licht betrachtet, enorm viel: Sie bekam Geld dafür, nach Herzenslust zu reisen, zu beobachten, zu zeichnen, zu sammeln, zu forschen, zu denken und zu diskutieren.
»Ist das Motiv doch nicht nach Ihrem Geschmack?«
Über ihrem Grübeln hatte Leah weder bemerkt, dass Bertrand von seinem Spaziergang zurückgekehrt war, noch, dass sie bisher kaum drei Striche aufs Papier gebracht hatte. Sie erschrak, als sie seine ernste Miene sah. Was erregte bloß derartig seinen Unmut? Wohl kaum die nicht beendete Zeichnung.
Er ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder und tat so, als verlöre er sich in der spektakulären Aussicht. Doch seine Kiefermuskeln mahlten. Etwas lastete auf seiner Seele. Leah wartete. Unkonzentriert schmierte sie einige Striche aufs Papier und zerriss es am Ende. Erstaunt sah er sie an.
»Unzufrieden?«
Leah fegte ihre Stifte zu Boden. »Allerdings. Seit Tagen, ach, seit Wochen richten Sie kaum noch das Wort an mich. Vergessen Sie nicht, dass es Ihre Idee war, mich zu engagieren. Sie haben mich geradezu gedrängt, obwohl Ihnen klar gewesen sein musste, dass ich eine Frau mit Vergangenheit bin. Sie haben kein Recht, mich dies nun spüren zu lassen!« Leah sprang auf, stemmte die Hände in die Hüften und blickte auf ihn hinunter. Es war ihr gleichgültig, dass sie wie eine Furie wirkte. »Wenn ich Ihnen so zuwider bin, sollten sich unsere Wege hier trennen.«
So. Es war heraus. Dummer Hitzkopf, zischte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie ignorierte sie. Zornbebend erwartete sie seine Antwort.
Er erhob sich, klopfte sorgfältig Erde und Blätter von seiner leichten Baumwollkleidung. »Ich habe Sie für diese Expedition bezahlt. Sie bleiben.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ sie stehen.
Den Rest des Tages stellte Bertrand die Nachhut, während Leah an der Spitze des kleinen Zuges voranstürmte, sich gar Langas Parang schnappte und auf Lianen und stacheligen Rattan einhieb. Sie war erschöpft, als Langa eine Stunde vor der Dunkelheit einen Platz für das Nachtlager bestimmte. Kaum hatten die Träger die kleine Lichtung von totem Laub freigefegt, in dem es von Ameisen, Egeln und Skorpionen bis hin zu Schlangen nur so wimmelte, streckte sie sich, schmutzig und verschwitzt, wie sie war, auf einer Matte aus und war binnen Minuten eingeschlafen; sie verpasste sogar Bertrands verspätete Ankunft im Lager.
Drei Tage später kämpften sie sich noch immer durch dichten Wald. Es ging steil bergauf über vom Regen rutschige Hänge und trügerische Pfade, die von Tieren, nicht von Menschen stammten. Immer wieder stöberte Langa interessante Pflanzen und Tiere auf, und Leahs Zeichenmappe füllte sich mit Bildern von insektenfressenden Kannenpflanzen, endemischen Orchideenarten, Bartflechten und vielem mehr. Einmal verriet ihnen ein unangenehmer Aasgeruch sogar den Standort einer Rafflesia, der größten Blume der Welt.
Seit sie vor zwei Tagen das Dorf verlassen
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