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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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hinderte ihn daran. »Halte deine Hand über unsere Tochter«, sagte sie. »Ich vertraue auf dich.«
    »Werde ich dich jemals wiedersehen?«
    »Das glaube ich kaum. Leb wohl.« Sie eilte die Treppe hinunter und auf die Trennwand zu. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Im Dämmerlicht unter der Galerie stand eine kostbar gekleidete, zierliche Chinesin. Ihre Hände ruhten auf den Schultern eines Jungen in Thomas’ Alter. Leah verlangsamte ihren Schritt, ihr Blick traf den der Frau, aus dem unerwartete Stärke sprach.
    Die Frau neigte leicht den Kopf. Dann nahm sie den Jungen an der Hand und trippelte auf ihren gebundenen Füßen davon. Leah fuhr sich über die Augen, unsicher, ob ihre Wahrnehmung ihr einen Streich spielte. Die Frau hatte kein Wort gesprochen, und doch klang ihre Stimme in ihrem Kopf nach. »Toh siah«, hörte sie. »Danke.«
    Völlig durcheinander hastete Leah aus dem Haus und bestieg eine freie Mietdroschke. Sie wies den Fahrer an, sie zur Esplanade zu fahren. Zu ihrer Familie.
    * * *
    Das Gepäck war in den Kisten und Koffern verstaut und abgeholt worden, Bertrand und Thomas waren auf ihren Wunsch schon zum Neuen Hafen vorgefahren. Zwei Stunden blieben Leah noch, bis auch sie an Bord der
Flores
gehen musste. Sie saß auf der Terrasse des Hotels, unschlüssig, was sie mit dieser Zeit anfangen sollte. Erneut las sie Johannas Brief. Die wirren Sätze, die verschmierten Stellen, die Ausstreichungen, all dies zeigte ihr, wie aufgewühlt die Schwester gewesen sein musste. Und dass sie die Wahrheit schrieb.
    Die Mutter also. Leah seufzte. Johanna berichtete, dass Alwine ihr Tun bereut und sich von Anfang an um Lilys Wohlergehen gesorgt hätte, doch sprach sie dies wirklich von aller Schuld frei? Das lag in Gottes Hand.
    Leah hatte die ganze Nacht wachgelegen, während ihre Gedanken einander jagten. Mehr als einmal hatte sie aufspringen, in die Waterloo Street fahren und die Tochter zurückfordern wollen, doch Boon Lees warnende Worte hallten in ihr nach, und auch Johannas Brief hielt sie zurück. Hätte Johanna sie gebeten, Lily in Ruhe zu lassen, wäre sicher ihr Widerspruchsgeist erwacht. Die Schwester aber flehte sie lediglich an, behutsam vorzugehen, um das Kind zu schützen. Aus jeder Zeile des Briefes atmete Johannas Liebe für Lily. Boon Lee hatte es richtig eingeschätzt: Es war besser, Lily bei Johanna zu belassen. Sie würde abreisen, auch um Lilys willen. Nur einmal wollte sie ihre Tochter noch sehen, von weitem, bevor sie Singapur für immer verließ.
    Und Johanna? Leah wurde eng ums Herz, es zog sie zur Schwester, doch sie entschied sich dagegen, ihr einen Abschiedsbesuch abzustatten. Stattdessen tunkte sie die Feder in die Tinte, warf, ohne abzusetzen, einige Worte auf das bereitliegende Briefpapier und übergab der Hotelbesitzerin den verschlossenen Umschlag mit der Bitte, den Brief Mrs von Trebow zukommen zu lassen.
    Eine halbe Stunde später stand sie im Schatten eines Baumes vor Mrs Cookes Schule. Ihr Gefühl trog sie nicht: Lily gehörte tatsächlich zu den Schülerinnen der ehrenwerten Dame. Gerade vergnügten sie und einige andere Mädchen sich mit einem Ballspiel. Zöpfe flogen, Gelächter drang herüber. Obwohl Leah die Wehmut packte, hielt sie sich zurück.
    Jetzt holte eines der Mädchen weit aus, der Ball flog über die niedrige Mauer, hüpfte über den Bürgersteig und blieb nur wenige Schritte von Leah entfernt liegen. Bevor sie sich zurückziehen konnte, flitzte schon ein kleines Mädchen aus dem Tor und auf den Ball zu. Sobald das Kind Leah entdeckte, blieb es wie angewurzelt stehen. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, dann gewann die Neugierde überhand.
    »Du bist Johannas Schwester.« Unwillkürlich trat Lily einen Schritt zurück.
    »Warte«, bat Leah. »Ich weiß, mein gestriger Auftritt muss zum Fürchten gewesen sein. Aber eigentlich bin ich nicht so.« Nicht?, fragte eine gemeine kleine Stimme in ihrem Kopf. Du hast schon so vieles kaputt gemacht mit deinem unbeherrschten Auftreten.
    »Warum habt ihr denn gestritten?«, unterbrach Lily Leahs innere Zwiesprache.
    »Ach, nur über alte Geschichten«, murmelte sie und ging in die Hocke. »Du heißt Lily?«
    »Ja.« Die Kleine kam einen Schritt näher. »Du siehst Mama gar nicht ähnlich.«
    »Mama?«
    »Sie ist natürlich nicht meine richtige Mama. Die war nämlich eine wunderschöne Chinesin und ist bei meiner Geburt gestorben, und mein Papa, ein englischer Kapitän, der hat bei einem Brand auf einem

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