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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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Wahrheit preiszugeben.« Wieder entstand eine Gesprächspause. Nun sagt es schon!, schrie es in Lily. Wer ist sie?
    »Es ist also dein letztes Wort? Du wirst uns nicht unterstützen?«
    »Nein.« Es klang zögernd.
    »Dann werde ich meiner Schwester schreiben.«
     
    Später wusste Lily nicht mehr, wie sie unbemerkt von der Krankenstation fortgekommen war. Aufgewühlt stürzte sie auf die Straße, lief und lief, rempelte späte Passanten an, brachte ein Kutschpferd zum Scheuen, stolperte, raffte sich wieder auf, während sich in ihrem Kopf die Gedanken überschlugen. Ihre geliebte Tante Alwine war in Wirklichkeit ihre Großmutter gewesen, Johanna hingegen ihre Tante. Und ihre leibliche Mutter? Erinnerungen an eine hübsche, zornige und unendlich traurige Dame stiegen vor ihrem inneren Auge auf. Wut erfasste sie. Ihre Eltern hatten sie verleugnet, sie im Glauben gelassen, ein Hurenkind zu sein, verurteilt zu ewiger Dankbarkeit denen gegenüber, die sie in Wirklichkeit verraten hatten.
    Irgendwann stand sie am Hafen, als hätten ihre Füße sie von selbst dorthin getragen. Im Schein von Gaslampen entluden magere Kulis ein großes Schiff. Lily erkannte die
Queen of the Far East,
einen imposanten Frachtdampfer mit zwei Masten und wohl tausendfünfhundert Bruttoregistertonnen. Es gehörte Ross Bowie, das größte und modernste seiner drei Schiffe.
    »Hallo, Schätzchen.«
    Lily fuhr herum. Mehrere Hafenarbeiter näherten sich und musterten sie ungeniert. Keiner konnte älter sein als achtzehn, doch in ihren Augen glomm Gier. Lily trat einen Schritt zurück. Die Männer rückten auf.
    »Ich bin kein käufliches Mädchen.«
    »Nein? Aber hübsch bist du trotzdem. Komm doch mit. Wir haben Extralohn bekommen.«
    »Nein!« Panik stieg in Lily auf. Hektisch sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sie war selbst schuld an dieser schlimmen Situation. Keine ehrbare Frau wagte sich nach Einbruch der Dunkelheit allein zum Hafen. Etwa hundertfünfzig Schritte entfernt stieg ein Chinese in europäischem Anzug in eine wartende Kutsche. Sie schrie aus vollem Halse um Hilfe. Sofort wichen die Arbeiter zurück und sahen sich unsicher an. Der Chinese hatte sie gehört. Ohne Zögern rannte er auf sie zu. Die Kulis ergriffen die Flucht.
    »Was zur Hölle ist hier los?« Er kniff die Augen zusammen. »Sind Sie nicht Lily von Trebow?«
    Lily nickte. Sie wankte, gerade noch rechtzeitig sprang ihr Retter hinzu und stützte sie.
    »Sie sollten nicht hier sein«, sagte der Mann. »Kommen Sie, ich nehme Sie mit zurück in die Stadt. Wohin darf ich Sie bringen?«
     
    Johanna war noch nicht aus dem Orchid Hospital zurückgekehrt, als sich Lily gegen elf Uhr von dem freundlichen chinesischen Geschäftsmann in der Waterloo Street absetzen ließ. Sie ging in ihr Zimmer und schloss sich ein. Eine Stunde später hörte sie Johanna unten im Salon. Sie schwang die Beine aus dem Bett, um hinunterzueilen und ihre Ziehmutter, nein, ihre Tante zur Rede zu stellen, doch als sie sich erheben wollte, fühlte sie sich wie gelähmt. Sie war zu wütend auf Johanna, auf Chee Boon Lee, auf alle, die mit den beiden unter einer Decke steckten. Sie musste warten, bis sie wieder klar denken konnte. Der Einzige, mit dem sie hätte sprechen mögen, war Hermann, doch ihr Stiefbruder weilte in Penang. Sie lachte trocken auf. Stiefbruder? Er war ihr Cousin. Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass sie blutsverwandt waren – so eng, dass er sich alle Heiratspläne ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen musste? Tränen stiegen Lily in die Augen. Auch ihn hatten sie betrogen.
    Stundenlang wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. In den frühen Morgenstunden schlich sie hinunter und setzte sich auf die Veranda. Noch immer ging es in ihrem Kopf drunter und drüber, doch langsam formte sich ein Plan.
    Als sie später zum Frühstück erschien, hatte Johanna bereits gegessen und es sich mit der Zeitung und einer Tasse ihres geliebten Kaffees gemütlich gemacht.
    Sobald sie Lilys Schritte hörte, ließ sie die Zeitung sinken. Ein besorgter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. »Du siehst furchtbar aus. Komm mal her.«
    Lily trat neben den Stuhl und beugte sich vor. Als Johanna die Hand auf ihre Stirn legte, zuckte sie zusammen. Die Berührung war ihr unangenehm.
    Johanna ließ von ihr ab. »Kein Fieber«, konstatierte sie.
    »Mir geht es nicht gut«, sagte Lily. »Ich bleibe besser zu Hause.«
    Johanna musterte sie. »Hast du etwas auf dem Herzen?«
    Lily

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