Die Insel der Orchideen
erleichtert. Hätte ihre Mutter, die mit großer Sicherheit ebenfalls eine Hure gewesen war, sie nicht im Convent abgegeben, hätte ihr ein ähnliches Schicksal geblüht. Sie sandte Gott ein kurzes Dankgebet, in das sie einen guten Wunsch für die unbekannte Mutter einschloss. Das Märchen von der wunderschönen, im Kindbett gestorbenen Mama und dem schiffbrüchigen Kapitän glaubte sie schon lange nicht mehr. Sie streifte sich frische Sachen über und ging zum Haupthaus, um eine letzte Runde zu machen.
Als sie die Halle im Erdgeschoss betrat, bemerkte sie einen Lichtschein aus dem kleinen Büro, zu dem nur Johanna und sie Zutritt hatten, da dort die giftigsten Substanzen und auch Geld aufbewahrt wurden. Johanna war also ebenfalls noch nicht nach Hause gefahren. Ein Blick zur Wanduhr verriet Lily, dass es erst neun Uhr abends war, sie also nicht lange geschlafen haben konnte. Sie wollte die Tür aufdrücken, als sie erst Johannas und dann Chee Boon Lees Stimme hörte. Sie kannte den Stifter der Krankenstation als ausgeglichenen, ruhigen Menschen, doch jetzt wirkte er erregt, beinahe verärgert. Als ihr Name fiel, blieb Lily wie festgenagelt stehen. Sie wollte nicht lauschen, aber es war ihr unmöglich, sich zu rühren.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Johanna. »Lilys Schicksal sollte dir am Herzen liegen, warum sperrst du dich?«
»Natürlich liegt es mir am Herzen, und genau deshalb werde ich nicht erlauben, dass sie nach England reist.«
Nach England? Lily trat einen Schritt näher zur Tür. Was ging vor sich?
»Ich begleite sie.«
»Du weißt doch, wie es in Europa zugeht. Lily hat es schon in Singapur nicht leicht, doch die Anfeindungen hier sind nichts im Vergleich zu der Verachtung, mit der man ihr in London begegnen würde. Ich erinnere mich noch gut an meine Studienzeit in England. Ich wurde begafft wie ein Tier. Und ich bin ein Mann.«
»Die Zeiten haben sich geändert.«
»Aber nicht die Dummheit der Menschen.«
Glas klirrte auf Glas. »Danke. Den kann ich brauchen.«
»Ich auch.« Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Lily hielt den Atem an.
Als Johanna den Faden wieder aufnahm, klang sie etwas ruhiger. »Hier«, sagte sie. »Lies diesen Brief. Elizabeth Blackwell will Lily persönlich unter ihre Fittiche nehmen.«
Lily konnte einen Überraschungsschrei nur mühsam unterdrücken. Elizabeth Blackwell! Die Frau, die sie, neben Florence Nightingale, verehrte wie keine andere. Johanna hatte offensichtlich hinter ihrem Rücken Kontakt mit der bewunderten Medizinerin aufgenommen, wollte sie zum Studieren schicken. Doch warum musste sie dafür Chee Boon Lees Erlaubnis einholen? Fehlte das Geld? Schon die nächste Äußerung bestätigte ihre Befürchtung.
»
Von Trebow Trading
wirft nicht genug ab, um ein derartiges Unterfangen zu finanzieren«, sagte Johanna eindringlich. »Du zwingst mich, dich an dein Versprechen von damals zu erinnern.«
»Du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Lily erhält alle Unterstützung und noch viel mehr. Nach London lasse ich sie dennoch nicht.«
»Verdammt!« Lily zuckte zusammen. Noch nie hatte sie ihre Ziehmutter fluchen hören. »Lily ist der stärkste Mensch, den ich kenne. Sie wäre zu allem bereit, um ihre Ziele zu erreichen.«
»Es war nie ihr Ziel, Ärztin zu werden.«
»Sie hat es nicht geäußert, weil sie nicht undankbar erscheinen will. Siehst du denn nicht den Eifer, mit dem sie sich den neuesten Forschungspapieren widmet? Was glaubst du, warum sie noch nicht verheiratet ist? Sei doch stolz auf deine kluge Tochter.«
Lily erstarrte. Die Erkenntnis war kaum in ihr Bewusstsein gedrungen, da folgte bereits der nächste Schlag. Johanna fuhr fort: »Wenn du nicht einwilligst, werde ich mich mit ihrer Mutter in Verbindung setzen.«
Chee Boon Lee war ihr Vater? Und ihre Mutter lebte? War Europäerin? Lily musste sich an der Wand abstützen.
»Das würdest du tun? Wo ist sie überhaupt? Soweit ich weiß, weilt sie auf Java und könnte euch in London sowieso nicht unterstützen.«
»Ja, sie ist auf Java. In Anjer. Vor zwei Wochen wurde in der Zeitung erwähnt, dass sie und ihr Mann von einer erfolgreichen Expedition zum Toba-See dorthin zurückgekehrt sind. Die Gesellschaft nimmt durchaus Anteil am Kommen und Gehen des Earl of Arliss und seiner Familie. Aber das tut nichts zur Sache.«
»Sie wird jeden Kontakt zu dir ablehnen. Genau wie ich hat sie zu viel zu verlieren.«
»Da sei dir nicht so sicher. Außerdem kann sie Lily helfen, ohne die
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