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Die Insel der Orchideen

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Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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an.
    Zweihundert Meter weiter brachte er die Kutsche hinter einer Mietkalesche zum Stehen, deren indischer Kutscher zusammengerollt wie eine Schlange auf dem Bock döste. Henry sprang auf die Straße, nahm Johannas Picknickkorb entgegen und half ihr beim Absteigen.
    »Ich trage dir den Korb ins Haus.«
    »Danke.«
    Seite an Seite durchquerten sie den Garten. Die Veranda war verwaist, doch im Salon brannte Licht. Sie gingen zum Küchenhaus, um den Korb loszuwerden, gaben sich im Schatten des Küchenvordachs verstohlen einen letzten Kuss und betraten den Salon durch den Hintereingang. In der Tür blieben sie wie angewurzelt stehen.
    Lily blickte ihnen entgegen, Verzweiflung in den Augen, selbst Mercy wirkte seltsam verloren.
    In ihrer Mitte thronte Amelia, weiß vor Wut.
    * * *
    »Halt endlich still.«
    Onkel Koh drehte den Kopf beiseite. »Ich halte nur still, wenn du versprichst, mir nicht die Kehle durchzuschneiden. Ich kann auch zum Barbier gehen. Was ist denn bloß los mit dir?«
    Johanna ließ das Rasiermesser sinken. »Entschuldige. Mir geht unendlich viel durch den Kopf.«
    »Lass mich dir helfen. Deine Sorgen sind auch meine.«
    »Ich glaube, diesmal muss ich es allein mit mir abmachen.« Johanna sah auf ihre Hände und atmete mehrmals tief durch. Das Zittern ließ nach.
    Der Geschichtenerzähler schloss ergeben die Augen und lehnte sich zurück. Johanna konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Vorsichtig schabte sie die vereinzelten weißen Stoppeln von seinen faltigen Wangen, immer darauf bedacht, nicht eines der langen weißen Haare zu rasieren, die sein Kinn zierten. Wie bei den meisten Chinesen war sein Bartwuchs spärlich, umso sorgsamer hütete er das wenige, das der Schöpfer ihm zugeteilt hatte. Seitdem vor Jahren ein Teil des Barts einem unachtsamen Barbier zum Opfer gefallen war, kümmerte sich Johanna um die Pflege. Mit seinen dreiundsiebzig Jahren war Onkel Koh bemerkenswert rüstig, doch seine Finger formten sich zu athritischen Klauen. Er war kaum noch in der Lage, seine Essstäbchen zu halten, geschweige denn ein Rasiermesser selbst zu führen.
    Zufrieden mit ihrer Arbeit wischte Johanna ihrem Freund den Seifenschaum aus dem Gesicht. Sie strich ihm zärtlich über die Stirn.
    »So, fertig. Gut siehst du aus.«
    »Unsinn. Ich bin ein Greis.«
    »Wo steht geschrieben, dass Greise hässlich sind?« Johanna wischte das Messer sauber. »Außerdem bist du kein Greis. Mir ist zugetragen worden, dass du gestern eine Vorstellung gegeben hast. Ich hätte es übrigens auch so bemerkt: Du bist heiser.«
    Theatralisch legte er sich die Hand aufs Herz. »Dir bleibt aber auch nichts verborgen.«
    Sie lachte. »Ich weiß es von Lily. Sie hat dir auf dem Rückweg von der Krankenstation für eine Weile zugehört.«
    »Ich habe sie gar nicht bemerkt.«
    »Hattest du denn deine Brille auf?«
    Er schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Sie drückt.«
    »Geh zu Lim. Er richtet alles. Aber sieh, da kommt die Post.«
    Es war nur ein Brief. Als Johanna den Absender erkannte, packte sie die Aufregung. Sofort riss sie den Umschlag auf und las.
    »Ich habe eine Zusage bekommen! Für Lily. Hier, sieh nur: Mrs Elizabeth Blackwell persönlich hat mir geschrieben. Sie möchte Lily in die London School of Medicine for Women aufnehmen.«
    »Das ist großartig. Aber weiß sie, dass Lily Eurasierin ist?«
    »Ja. Sie schreibt, dass es sicherlich schwierig wird, sie aber bereit sei, den Versuch zu wagen. Auch Lilys Alter findet sie nicht bedenklich. Sie selbst habe erst mit sechsundzwanzig Jahren das Medizinstudium beginnen können, dank der Borniertheit der Männer, wie sie sich ausdrückt. Elizabeth Blackwell war die erste Frau, die ein Medizinstudium absolviert hat. Heute ist sie Professorin für Frauenkrankheiten. Ihre Schwester ist auch Ärztin und leitet ein College in New York.«
    »Das scheint ein interessantes Schwesternpaar zu sein. Wie du und Leah.« Onkel Koh zwirbelte nachdenklich seinen Bart. »Du wirst Lily begleiten?«
    »Ich weiß es nicht. Bisher habe ich mir nicht vorstellen können, dem Orchid Hospital länger als ein paar Tage fernzubleiben, und außerdem weiß ich auch nicht, wem ich es anvertrauen kann. Andererseits …« Sie brach ab.
    Andererseits kam die Zusage gelegen. Johanna wand sich bei dem Gedanken, ihr geliebtes Singapur zu verlassen, aber bei Licht betrachtet war es eine elegante Lösung ihres Problems. Nach dem Eklat des vorgestrigen Abends war es das Beste, wenn sie die Stadt verließ – und

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