Die Insel der Orchideen
hatte viel Zeit bei Dinah verbracht, die seit einigen Tagen unter ihrer Schwangerschaft litt. Sie war erst spät nach Hause gekommen und hatte Lily schon schlafend gewähnt. Umso größer war ihr Schreck, als sie in der Frühe nach mehrmaligem Rufen in Lilys Zimmer gegangen und ihr Bett unberührt vorgefunden hatte.
Jetzt stürmte sie ins Haus und rief Lilys Namen. Rong, ihre langjährige Haushälterin, kam ihr entgegen.
»Sie ist nicht zurückgekommen, aber vor etwa einer Stunde hat ein Bote diesen Brief gebracht.«
Johanna nahm Rong den Umschlag aus der Hand und riss ihn auf. Ihr Herz setzte für ein paar Schläge aus, als sie die Zeilen überflog.
»Ist Ihnen nicht gut? Was schreibt sie?« Rong führte Johanna in den Salon und drückte sie in einen Sessel. »Der Brief ist doch von Miss Lily, oder?« Sie biss sich auf die Lippen. »Hätte ich Sie gleich informieren sollen?«
»Du wusstest ja nicht, wo du mich finden kannst. Es ist alles in Ordnung.«
Johanna schob den Brief zurück in den Umschlag. »Ich muss sofort los«, sagte sie bedrückt. Sie wies den Kutscher an, sie zur Villa der Familie Chee zu bringen. Sobald sie saß, ballte sich ihr Magen zu einem Klumpen zusammen. Sie waren vermessen gewesen, alle Beteiligten. Sie hätten Lily die Wahrheit schon vor vielen Jahren beichten müssen. Man spielte nicht ungestraft Gott.
In der Villa teilte man ihr mit, Chee Boon Lee sei aus geschäftlichen Gründen am Vormittag nach Johor gereist und würde nicht vor Ablauf der nächsten Woche zurückerwartet. Johanna mahnte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Wohin jetzt? Onkel Koh? Er konnte ihr nicht helfen, genauso wenig wie Mercy. Also blieb nur Henry. Durfte sie ihn aufsuchen? Seine Situation war seit jenem unglückseligen Abend schwierig genug.
»Mem? Wohin soll es gehen?«
Der Brief knisterte in ihrer Hand. Sie musste handeln. »Boat Quay«, wies sie den Kutscher an. »Und beeilen Sie sich.« Sie konnte keine Rücksicht nehmen.
Henry fuhr auf, als sie in sein Büro stürzte.
»Was ist los?«
»Lily befindet sich auf dem Weg nach Anjer.« Sie warf den Brief auf den Schreibtisch. »Der ist von ihr. Sie hat den Boten angewiesen, ihn mir erst heute auszuhändigen.«
»Was will sie in Anjer?«, fragte er verwirrt. »Das ist doch nur ein Kaff an der Sundastraße.« Plötzliche Erkenntnis spiegelte sich in seiner Miene. »Leah ist dort, nicht wahr? Ich habe es in der Zeitung gelesen. Will Lily sie aufsuchen? Aber warum?« Er stutzte. Johanna konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, wie sich viele Einzelteile zu einem Ganzen zusammensetzten. Er zog die richtigen Schlüsse. »Leah ist Lilys Mutter!«, rief er aus.
»Ja«, sagte sie kleinlaut. »Sie hat durch Zufall ein Gespräch zwischen mir und Boon Lee gehört. Er ist der Vater.«
»Chee Boon Lee?« Henrys Verblüffung kannte keine Grenzen.
»Lily ist gestern nach Java aufgebrochen. Aber damit noch nicht genug: Sie ist an Bord der
Queen of the Far East
. Mit Ross Bowie.« Er wollte sie unterbrechen, doch sie hob die Arme. »Ich mache mir große Sorgen. Warum mischt sich Bowie in Lilys Angelegenheiten? Was hat er vor? Ich habe ein ausnehmend schlechtes Gefühl.«
Henry wirkte, als sähe er einen Geist. Zögernd wies er hinter Johanna, wo sich eine Zwischentür zum angrenzenden Büro befand. Irritiert wandte sie sich um und starrte in das Gesicht eines jungen Mannes. Seine Lippen waren zu einem hämischen Grinsen verzogen.
»Hochinteressant«, sagte Oscar. »Meine Mutter wird begeistert sein, wenn ich ihr diese skandalöse Geschichte berichte. Ich denke, Sie und Ihre Familie können schon mal die Koffer packen. In Singapur wird sich bald niemand mehr mit Ihnen abgeben wollen.«
Henry stürzte mit einem Satz hinter dem Tisch hervor und stellte sich vor seinen Sohn. »Wage es nicht«, drohte er. »Du wirst niemandem hiervon erzählen. Schon gar nicht Amelia.«
Oscar zog den Kopf ein, doch seine Stimme büßte nichts von ihrem Hochmut ein. »Und warum sollte ich mich an dein Verbot halten? Diese Metze legt es nur darauf an, Mutter in den Dreck zu ziehen. Wir werden es ihr heimzahlen.«
Der Faustschlag traf ihn unerwartet. Er taumelte zurück. Johanna fiel Henry in den Arm.
»Hör auf!«, schrie sie außer sich. »Du machst alles nur schlimmer.«
Henrys Wut war erschreckend. Nie zuvor hatte Johanna den Mann, den sie so sehr liebte, in einer derartigen Verfassung erlebt. Das Gesicht zu einer bleichen, kalten Maske erstarrt, stand er vor Oscar. Erneut
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