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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: white
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und schlug die Beine übereinander.
    »Ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachtet«, sagte er. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie eine Bitte an mich haben? Oder einen Rat benötigen?« Er lächelte sie an. »Wenn dem so ist, möchte ich Ihnen sagen, dass Sie keinen Grund hatten, so lange vor meinem Haus mit sich zu ringen. Sprechen Sie freiheraus. Ich stehe Ihnen jederzeit und mit größter Freude zu Diensten.«
    Lily senkte den Blick und drängte mit Macht die Wörter in ihre Kehle zurück, die Bowies Freundlichkeit hervorlockten. Er beugte sich vor und nahm ihre Hand.
    »Was ist geschehen? Ist Johanna etwas passiert? Hermann? Dinah?« In seinen Augen schimmerte Mitgefühl. Im Gegensatz zu Johanna hatte Lily den großen Mann immer gemocht. Stets begegnete er ihr mit ausgesuchter Höflichkeit, hatte obendrein nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr er Johannas und Lilys Engagement für die Kranken schätzte, und geizte nicht mit großzügigen Spenden. Lily spürte ein übermächtiges Verlangen, sich alles von der Seele zu reden, doch war Bowie der Richtige?
    »Es ist etwas Wichtiges, nicht wahr? Ich sehe es in Ihrem Gesicht. Vielleicht ist es besser, Sie offenbaren sich jemandem, der Ihnen nähersteht.«
    Das gab den Ausschlag. Hätte Bowie sie gedrängt, wäre ihr Mund verschlossen geblieben, doch nun war die Bresche geschlagen. Lily neigte nicht zum Weinen. Mit trockenen Augen erzählte sie ihm von dem belauschten Gespräch. Erst nachdem die Wahrheit auf dem Tisch lag, erschrak sie über ihre Offenheit. Mit diesem Wissen war Bowie in der Lage, seinem Konkurrenten Chee Boon Lee das Leben schwer zu machen. Entsetzt starrte sie ihn an.
    Er erahnte ihre Gedanken. »Keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
    »Danke«, sagte sie kleinlaut.
    Er stand auf und holte aus einem kleinen Schrank eine Flasche Whiskey und ein schweres Glas. »Möchten sie auch einen?«, fragte er mit belegter Stimme.
    »Ich trinke keinen Alkohol.«
    »Sie erlauben trotzdem?«
    Sie nickte. Er schenkte sich ein großzügig bemessenes Glas ein, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »Starker Tobak«, bemerkte er. »Die ganze Stadt rätselte damals über den Grund für Leahs Rückzug aus der Gesellschaft und schließlich ihre Flucht. Auf eine Liebschaft mit Chee Boon Lee ist niemand gekommen und schon gar nicht darauf, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hatte.« Er schüttelte den Kopf. »Die Ärmste.«
    Lily fuhr auf. »Die Ärmste? Sie hat zugelassen, dass ich ins Convent kam. Sie hat mich einfach weggegeben. Alle haben mich betrogen!« Endlich kamen die Tränen. Bowie stand auf und legte seine Hand tröstend auf ihr Haar, zog sie aber schnell wieder fort. Das Weinen hörte so abrupt auf, wie es begonnen hatte. »Was soll ich bloß tun?«, fragte sie, mehr an sie selbst als an Bowie gerichtet.
    »Mit Johanna sprechen? Mit Ihrem Vater?«
    »Das kann ich nicht. In meiner Wut würde ich alles kaputt schlagen.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Mir hat es nie an etwas gefehlt.«
    »Außer an der Wahrheit«, brummte Bowie. Gedankenvoll knetete er sein Kinn. »Ich ahne, was Sie zu mir geführt hat«, erklärte er. »Wissen Sie was? Ich begleite Sie. Ich werde veranlassen, dass die
Queen of the Far East
uns in Anjer absetzt, bevor sie nach Batavia weiterfährt. Auf dem Rückweg kann sie uns wieder abholen.«
    Lily verschlug es die Sprache. »Sie wollen mich begleiten?«
    »Aber ja. Ich kann es unmöglich verantworten, Sie allein reisen zu lassen. Im Übrigen würde ich Leah gern wiedersehen. Ich habe keine Ahnung, wer oder was Ihre Mutter damals dazu bewogen – ich sollte besser sagen: gezwungen – hat, Sie fortzugeben. Es passt nicht zu ihr. Sie nimmt es mit der ganzen Welt auf, wenn sie etwas durchsetzen will.« Er zögerte kurz. »Nur eines noch: Bitte erwähnen Sie unseren Plan nicht. Johanna würde Ihnen die Reise untersagen.«
    »Ich hatte nicht vor, überhaupt darüber zu reden«, erwiderte Lily. Wieder überlief sie ein Zittern. »Mit mir redet ja auch niemand«, flüsterte sie.
    * * *
    Johanna war am Ende ihrer Kraft, als sie um drei Uhr am Nachmittag nach Hause kam. Seit dem Morgen hatte sie vergeblich die ganze Stadt abgesucht: Ihre Ziehtochter blieb verschwunden. Weder Onkel Koh noch Lilys wenige Freundinnen wussten etwas über ihren Verbleib. Sie hatte die Klinik schon gestern Mittag verlassen. Man hatte ihr einen schönen Tag gewünscht und sich keine weiteren Gedanken gemacht. Johanna ihrerseits

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