Die Insel der Orchideen
dafür auch noch einen plausiblen Grund angeben konnte. Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme, als sie an den katastrophalen Ausgang ihres Ausflugs dachte. Ausgestattet mit einem sechsten Sinn hatte Amelia überall nach Henry suchen lassen, selbst in den Clubs hatten ihre Diener nachgefragt. Schließlich stattete sie der überraschten Lily einen Abendbesuch ab. Mercy, die zu Recht vermutete, dass ihre Freundin den Tag mit Henry verbrachte, eilte sofort herbei, um Lily beizustehen. Leider gelang es den beiden nicht, Amelias Misstrauen zu zerstreuen und sie hinauszukomplimentieren. Als Johanna und Henry dann mit schuldbewussten Mienen in der Tür standen, sah Amelia ihren Verdacht bestätigt. Ohne ein weiteres Wort war sie aus dem Haus gerauscht. Johanna hatte Henry, der seiner Frau nur Minuten später mit dem Phaeton folgte, seitdem nicht gesprochen; sie wusste auch so, dass Amelia ihm eine schlimme Szene gemacht hatte.
»Du wirst mir fehlen.«
»Weinst du etwa?« Johanna sprang auf und kniete sich neben den Stuhl ihres chinesischen Vertrauten. »Das musst du nicht. Lily und mir wird es in London gutgehen.«
Er zwinkerte, die Augen klärten sich. »Du nimmst ein großes Opfer auf dich. Dabei wissen wir beide, dass Lily sehr wohl allein reisen könnte. Du müsstest nur endlich den Mut aufbringen, dich an Leah zu wenden. Selbst wenn ihr Lily weiterhin die Wahrheit über ihre Herkunft verschweigt, was ich nicht gutheiße, wäre Leah begeistert, dass ihre Tochter ihren Forschergeist geerbt hat. Sie lebt doch noch in England, oder?«
»Nein, sie ist mit ihrem Baron auf Java. Ich habe es kürzlich im Gesellschaftsteil der Zeitung gelesen.«
»Trotzdem könntest du Kontakt zu ihr aufnehmen. Sicher wüsste sie eine gut beleumundete Familie, bei der Lily logieren kann.«
»Aber ich will doch mit ihr nach London.«
Er fasste sie scharf ins Auge. »Johanna, du willst nicht nach London, du flüchtest aus Singapur. Vor deinen Gefühlen für Henry. Glaubst du wirklich, du könntest etwas vor mir verbergen? Überlege dir gut, was du tust. Es könnte eure letzte Chance sein.«
Sie sah ihn lange an. So viel Güte sprach aus seinem Gesicht, so viel Mitgefühl. Koh Kok war ein zutiefst ehrbarer und moralischer Mann, und doch riet er ihr, eine Ehe zu zerstören.
»Ich werde diese Chance nicht nutzen«, sagte sie fest. »Das Schicksal hat ein gemeinsames Glück für uns nicht vorgesehen. Es ist besser, wenn ich gehe.«
26
August 1883 , wenige Tage später
L ily erwachte mit Kopfschmerzen. Sie benötigte einen Moment, um sich zu orientieren; nur langsam schälten sich die Konturen des Schlafsaals aus der Dunkelheit. Stöhnend richtete sie sich auf. Sie hatte sich kurz auf dem letzten freien Bett ausruhen wollen, doch die Erschöpfung hatte sie übermannt. Wie lange mochte sie geschlafen haben? Sicher machten sie sich zu Hause schon Sorgen über ihren Verbleib. Sie erhob sich leise, um den Schlaf der Kranken nicht zu stören, und ging über die Hintertreppe zum Waschraum. Schnell entledigte sie sich ihres Kleides und goss sich einige Kellen kaltes Wasser über den Kopf. Langsam kehrte Leben in ihre müden Glieder zurück.
Es war ein fürchterlicher Tag gewesen, gleich zwei ihrer Patientinnen waren gestorben. Die erste hatte schon seit Tagen im Fieberdelirium gelegen; unterernährt, wie sie war, hatte sie dem inneren Feuer nichts entgegenzusetzen gehabt. Alle Versuche, sie mit nahrhaftem Essen zu stärken, waren fehlgeschlagen. Wäre sie nur früher gekommen!
Frustriert klatschte Lily die Kelle ins Wasser zurück. Wie oft fanden die Frauen erst dann den Weg zu ihr, wenn sie bereits an der Schwelle des Todes standen, wie oft musste sie sich von den Leidenden anhören, dass ihr Leben wertlos sei. Es war zum Verrücktwerden.
Die zweite Patientin, ein japanisch-chinesischer Mischling, war fast noch ein Kind gewesen. Vergeblich hatte Lily versucht, ihre Blutungen zu stoppen. Die Frau, die sie hergebracht hatte, war ihr wohlbekannt: Die japanische Mamasan führte ein Bordell, in dem dank Lilys Predigten ein Mindestmaß an Hygiene herrschte und das deshalb auch von den wohlhabenden Männern der Stadt frequentiert wurde. Nach dem Tod des Mädchens nahm Lily die Mamasan beiseite und verlangte eine Erklärung. Schließlich gab die Frau zu, dass die Kleine bereits gearbeitet hatte. Eine Engelmacherin sollte ihre Schwangerschaft beseitigen, und das sei schiefgegangen.
Nach dem Gespräch fühlte sich Lily leer. Leer und seltsam
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