Die Insel der Orchideen
davongekommen. Das Hotel lag zu weit oben am Hang, das Wasser konnte sie nicht erreichen. Sie nicht und Lily und Leah mit ihrer Familie, deren Bungalow sich noch etwas höher befand, erst recht nicht. Alles würde gut werden, sie musste nur raus aus dieser verdammten Hütte.
Johanna verlor jedes Zeitgefühl. Kratzte sich die Finger blutig, schrie und tobte erfolglos gegen ihr fensterloses Gefängnis an. Die Tür war verkantet, wahrscheinlich hatte sich das Gebäude beim letzten Beben verzogen.
Das Dach! Hoffnung durchflutete sie. Sie fand eine Kiste und stellte sich darauf. Die scharfen Blätterkanten zerschnitten ihre Handflächen, während sie versuchte, ein Loch in das Attapdach zu reißen, sie zog und zerrte, aber das Geflecht gab nicht nach. Panisch sprang sie von der Kiste, tastete sich durch das im Schuppen gelagerte Gerümpel auf der Suche nach einem Werkzeug, doch sie fand nichts Geeignetes. Mit jeder Minute wurde sie mutloser. Ihre Lage war aussichtslos.
Waren das Schritte? Johanna schrie aus Leibeskräften, dann verstummte sie, versuchte, durch den Sturm und Donner die flüchtigen Geräusche eines anderen Menschen auszumachen. Völlig außer sich hämmerte sie gegen die Tür.
»Ich bin es, Johanna! Die Tür geht nicht auf, helft mir, ihr müsst eine Axt besorgen!«
Niemand hörte sie.
* * *
Obwohl die Sonne schon vor zwei Stunden aufgegangen war, wurde es nicht Tag. Der Berg wütete schlimmer als je zuvor, eine zweite Welle hatte auch die von der gestrigen Brandung verschonten Schiffe zerstört. Schon nach der ersten Explosion des Tages hatten Bertrand, Lily und Thomas entschieden, in eines der Dörfer im Hinterland zu ziehen. Auch wenn ihr Haus hoch über dem Meer lag, fühlten sie sich in Anjer nicht mehr sicher. Alle drei waren davon überzeugt, dass das Schlimmste noch bevorstand. Seit dem frühen Morgen regnete es nicht nur Asche, sondern auch kleine Steinchen aus den schwarzen Wolken.
Bis jetzt hatten sie alles für den Abmarsch vorbereitet, Medikamente und Lebensmittel zusammengetragen und eine notdürftige Trage für Leah, die den Höhepunkt ihres zweiten Fieberschubs in den frühen Morgenstunden überwunden hatte, zusammengeschustert. Lily sah sich im Salon um. In spätestens einer halben Stunde konnten sie fort sein.
»Ich hole jetzt die anderen aus dem Hotel«, sagte sie zu Bertrand.
»Seien Sie vorsichtig, Miss Ah. Nutzen Sie jedes Vordach, jeden Baum, um nicht von den Kieseln getroffen zu werden.«
Lily versprach es und wandte sich zur Tür, die im selben Moment aufsprang. Bowie und der Bellboy des Hotels, ein schüchterner javanischer Junge von neun oder zehn Jahren, platzten herein.
»Sie wollen fort?«, fragte Bowie mit Blick auf die gefüllten Kiepen.
»Wir sind so gut wie abmarschbereit, Mr …?«
»Bowie. Ich nehme an, Sie sind der Earl of Arliss?«
»Nennen Sie mich Bertrand. In einer Situation wie dieser sind Formalitäten fehl am Platz.«
»Ross.« Sie nickten sich knapp zu. Lily spürte Erleichterung angesichts der entschlossenen Mienen der Männer. Nun gab es genug starke Arme, Leahs Trage den Berg hinaufzuschleppen. Erwartungsvoll blickte sie an Bowie vorbei, aber es kam niemand mehr.
»Wo ist Johanna?«
Bowie zog die Brauen zusammen. »Ist sie nicht hier?«
Lily schüttelte den Kopf. Ihr Mund wurde trocken.
»Sie ist vor über einer Stunde aufgebrochen. Um Gottes willen!« Bowie wurde kreidebleich. »Ich muss sie suchen.«
Nie hatte Lily ihn so aufgebracht gesehen. Sie konnte ihn gerade noch am Ärmel greifen, bevor er wieder in den Höllensturm hinausrannte. »Ich begleite Sie.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«
Alle wandten sich Leah zu. Sie hatte sich aus ihrem Stuhl erhoben und trat auf schwachen Beinen zu ihrem Mann. »Bertrand, du gehst mit Ross. Er wird deine Hilfe benötigen.«
»Du kannst kaum stehen«, bemerkte Bertrand. »Jemand muss dich tragen.«
»Thomas wird mich stützen.«
Bertrand umarmte sie. »Meine tapfere Frau. Wir holen Johanna und folgen euch so schnell wie möglich.«
»Geht«, bat Leah. »Findet meine Schwester.«
Einen Augenblick später verschluckte der dunkelgraue Morgen Bertrand und Bowie. Auch die anderen verließen das Haus. Thomas stützte Leah, während Lily, vom Gewicht der Kiepe niedergedrückt, den verängstigten Jungen an der Hand hielt.
Der Wind steigerte sich zum Orkan, Äste flogen durch die Luft, heiße Asche regnete auf sie nieder. In ihrem Rücken tobten Blitze durch die schwarzen Wolken, feurige
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