Die Insel der Orchideen
hilfloses Lächeln erschien auf Leahs Gesicht, weit öffnete sie ihre Arme. Lily stürmte zum Bett. Stumm hielten sie einander umklammert, während draußen eine verfrühte Dämmerung einsetzte. Sie merkten es nicht, waren sich selbst genug. Schließlich schob Leah Lily von sich.
»Zeit für die Wahrheit«, sagte sie rauh. »Bitte rufe Bertrand und Thomas. Sie sollen meine verlorene Tochter begrüßen.«
»Das darfst du nicht tun.«
»Warum nicht? Ich habe viel zu lange gelogen. Damit muss Schluss sein.«
»Dein Mann ist sehr nett. Bitte zwinge ihn nicht, sich von dir abzuwenden.«
Leahs Miene verzog sich schmerzlich. »Wenn es so kommt, werde ich damit leben.«
»Aber das muss doch nicht sein. Sag ihm einfach, ich sei Lily, die Ziehtochter deiner Schwester.«
Leah machte Anstalten, sich zu erheben. Lily drückte sie mit Gewalt zurück. »Tu es nicht, lass dir Zeit zum Nachdenken.«
»Ich habe eine kluge Tochter. Und eine sture, aber das ist eigentlich kein Wunder. Nein, Lily, ich will dir das nicht mehr antun.«
»Du tust mir nichts an.« Fast hätte Lily »Mutter« hinzugefügt, doch sie brachte es nicht über die Lippen. Mehr als ihr halbes Leben nannte sie Johanna ihre Mutter, ihr gebührte diese Anrede. Es gehörte viel mehr dazu, eine Mutter zu sein, als nur ein Kind zu gebären. Leah bemerkte ihr Zögern. Sie nahm Lilys Gesicht zwischen die Hände und sah sie eindringlich an.
»Dann überlasse ich dir die Entscheidung. Ich werde alles akzeptieren.«
Lily nickte. Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Leah hievte sich alarmiert von ihrem Lager und ließ sich von Lily auf die Veranda führen. Thomas folgte Augenblicke später. Bertrand stieß als Letzter zu ihnen, nur einen Sarong um die Hüfte gewickelt, der Körper noch nass vom Bad.
In stummem Entsetzen sahen sie die Rauchwolke über Kraktau in den Himmel quellen, höher, immer höher, das Donnern nahm kein Ende. Unten auf der Straße erklang Geschrei. Ein Holländer versuchte, sein panisches Pferd zu bändigen. Mit einem Ruck riss es sich los, stürmte am Haus vorbei und weiter den bewaldeten Hang hinauf. Kokosnüsse lösten sich in großer Zahl aus den Baumkronen, Vögel flogen kreischend auf und verschwanden.
»Dort, seht nur!«
Sie folgten Thomas’ ausgestrecktem Arm. Eine Schar Flughunde flatterte landeinwärts, kleine Fledermäuse schlossen sich ihnen an.
»Sie spüren etwas«, flüsterte Lily. »Von diesem Berg geht Unheil aus.«
Es wurde von Minute zu Minute dunkler, während Gas und Lava gen Himmel schossen.
Leah setzte ihren Sextanten an und vermaß den in rasender Geschwindigkeit hochquellenden Rauch. »Zwanzig Kilometer«, zählte sie. »Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. O Gott.« Sie blickte in die Runde. »Vierundzwanzig Kilometer«, flüsterte sie. »Und sie steigt noch immer.«
Am Sonntag, dem 26 . August 1883 um zwei Uhr nachmittags fraß die schwarze Wolke die Sonne.
Die Welt versank in unheimlichem Zwielicht.
* * *
Weit entfernt hörte er menschliche Stimmen. Erst nur ein Murmeln, kristallisierten sich bald einzelne Wörter heraus. Henry presste die Lider zusammen, zwang sein Bewusstsein, bei ihm zu bleiben, und riss dann die Augen weit auf. Das Leben hatte ihn wieder.
Sechs Tage habe er im Fieberdelirium verbracht, teilte Doktor Ward ihm mit, als er wieder ansprechbar war. Sechs Tage, in denen er mehr als einmal auf der Schwelle des Todes gestanden habe.
»Und dabei hatten Sie noch Glück«, sagte der Arzt. »Der Schuss ist glatt durch Ihre Seite geschlagen, ohne die inneren Organe zu verletzen. Dafür war die Fleischwunde gewaltig. Ich habe mich ziemlich mühen müssen, Sie wieder zusammenzuflicken. Schön sieht es nicht aus.«
Henry winkte müde ab. Sofort schoss der Schmerz in seine rechte Rumpfseite. Er blickte sich in dem hell und behaglich eingerichteten Krankenzimmer um, das mit seinem eigenen Schlafzimmer so gar nichts gemein hatte. »Wo bin ich eigentlich?«
»Im Gästezimmer der Robinsons.« Der Arzt lächelte. »Nachdem Ihre Frau auf Sie geschossen hat, konnte ich Sie wohl kaum ihrer Obhut anvertrauen.«
Der Streit. Der Schuss. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Verschwommen zogen die Bilder des Abends an ihm vorbei. Amelia hatte ihn gehindert, das Haus zu verlassen. Aber warum? Angestrengt zermarterte er sein morphiumgetränktes Hirn. Er hatte verreisen wollen. Wohin? »Johanna«, keuchte er. »Ist sie in Singapur?«
Doktor Ward schüttelte den Kopf. »Mrs Robinson teilte mir
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