Die Insel der roten Erde Roman
für einen Farmer arbeiten wird, der seine Frau verloren hat. Sind Sie das, Sir?«
»Ja.«
»Ich bin Gabriel Donnelly«, stellte der Leuchtturmwärter sich vor. »Und das hier ist Evan Finnlay. Wir freuen uns, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Divine.«
Einen so respektvollen Ton hatte Sarah seit vielen Jahren nicht gehört, und da hatte er nicht einmal ihr gegolten. Sie musste an die Murdochs und deren verwöhnte Töchter denken. Obwohl sie vor Angst zitterte, genoss sie die Freundlichkeit und Höflichkeit des Mannes.
Der Farmer beugte sich über Amelia. »Die macht aber keinen besonders kräftigen Eindruck«, murrte er.
Sarah dachte an die arme Lucy. Soll Amelia ruhig am eigenen Leib erfahren, was es heißt, Dienerin zu sein!, sagte sie sich. »Sie ist bestimmt sehr tüchtig«, meinte sie.
»Warum ist ihr Kopf verbunden?«
»Sie hat ihn sich angeschlagen, als ich sie mit der Winde heraufgezogen habe«, erklärte Gabriel.
»Vorhin war sie für kurze Zeit wach«, sagte Sarah. »Sie kann sich an nichts erinnern. Weder an das Schiff noch an das Ziel ihrer Reise. Sie weiß nicht einmal, welcher Tag heute ist.«
»Es wird ihr schon wieder einfallen«, sagte Gabriel.
»Auf der Farm wird sie sowieso keine Zeit haben, über ihre Vergangenheit nachzudenken. Dafür sorge ich schon«, sagte Evan kalt.
Sarah fragte sich, ob man Amelia glauben würde, falls sie ihr Gedächtnis wiederfand. Sie selbst wäre dann schon längst über alle Berge. »Wie komme ich zu den Ashbys?«, fragte sie, denn sie betrachtete die Ashbys als ihre Fahrkarte in die Freiheit. Sie war entschlossen, bei der ersten Gelegenheit zu fliehen und zu ihrer Familie nach England zurückzukehren.
»Ich kenne die Ashbys gut«, sagte Gabriel.
»Oh.« Sarah stockte das Herz. Sie würde nicht zulassen, dass Gabriel ihre Pläne zunichte machte, und überlegte blitzschnell. »Dann werden sie aber nicht sehr erfreut sein, wenn ich ihnen erzähle, dass Sie uns belogen haben. Sie haben behauptet, es gebe keine Haie in der Bucht.«
»Habe ich das?« Gabriel sah sie prüfend an.
»Ich habe gehört, wie Sie zu diesem Gentleman gesagt haben«, Sarahs blickte zu Evan, »die Haie hätten die Ertrunkenen gefressen …«
Gabriel wunderte sich, dass sie so unumwunden zugab, seine Unterhaltung mit dem Farmer belauscht zu haben. »Ich musste Sie belügen. Sie waren beide völlig erschöpft. Sie hätten nicht mehr lange durchgehalten. Edna und Charlton werden verstehen, dass ich keine andere Wahl hatte. Es sind anständige Menschen, vor denen ich die größte Hochachtung habe. Leider habe ich die beiden nicht mehr gesehen, seit ich die Stelle hier vor knapp einem Jahr angetreten habe.«
Sarah war das Thema unangenehm. Sie fürchtete, er werde ihr Fragen über die Ashbys stellen.
»Sind die Ashbys zu Ihren Vormündern ernannt worden, weil Sie Ihre Eltern verloren haben?«
Sarah starrte ihn an. Panik erfasste sie, und ihre Lippen zitterten.
Gabriel deutete ihre Reaktion falsch. »Entschuldigen Sie meine Neugier«, sagte er rasch. »Ich bin wohl schon zu lange allein. Offenbar habe ich meine guten Manieren vergessen.«
Für einen Leuchtturmwärter hat er ungewöhnlich gute Umgangsformen, dachte Sarah verwundert. Und woher kannte ein Mann wie er die Ashbys so gut? »Meine Eltern und mein Bruder sind bei einem Unfall ums Leben gekommen.«
»Oh, das tut mir Leid. Mein Beileid.«
»Danke. Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich nicht darüber sprechen möchte. Seit dem Unfall sind erst ein paar Wochen vergangen, die Wunde ist noch zu frisch.«
»Natürlich.«
Sarah beglückwünschte sich im Stillen zu ihrem schauspielerischen Talent. Das schien ja leichter zu werden, als sie gedacht hatte. »Wie komme ich von hier nach Kingscote? Gibt es eine Postkutsche?«
Gabriel sah sie mit großen Augen an. »Wir befinden uns hier im entlegensten Winkel der Insel. Es gibt keine Verbindung über Land. Nicht einmal Schiffe oder Fischereifahrzeuge legen regelmäßig hier an.«
Sarah machte ein bestürztes Gesicht.
»Das nächste Versorgungsschiff trifft frühestens in zwei Wochen ein. Aber vielleicht kommt morgen ein Fischkutter vorbei, der Sie nach Kingscote mitnehmen kann.«
Sarah wollte so schnell wie möglich fort, für den Fall, dass Amelia ihr Gedächtnis wiedererlangen sollte. »Sie verstehen sicher«, sagte sie, »dass ich es kaum erwarten kann, die Ashbys wiederzusehen.«
Gabriel nickte. »Gewiss«, sagte er. »Ich muss mich jetzt ein wenig hinlegen. Ich bin seit gestern
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