Die Insel der roten Erde Roman
betrachtete den Koffer genauer. Jetzt erst merkte sie, dass er zwar genauso groß war wie ihrer und eine ähnliche Farbe hatte, aber von besserer Qualität war.
Was wohl darin sein mochte? Die Worte des Leuchtturmwärters fielen ihr ein: Den Toten nutzt ihre Habe nichts mehr. So war es ja auch. Sarah musste das Gefühl überwinden, etwas Unrechtes zu tun, wenn sie den Koffer öffnete. Zumal es den Anschein hatte, dass sie und Amelia die einzigen Überlebenden waren. Ein Gedanke durchzuckte sie. Wenn der Koffer nun einem Mann gehört hatte? Dann wäre sein Inhalt nutzlos für sie.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und hob den Deckel an. Sie hatte Glück: Der Koffer gehörte einer Frau. Schals, Handschuhe, Unterwäsche und ein Paar Schuhe befanden sich darin. Alles war von bester Qualität. Zwischen den Kleidungsstücken lag ein Tagebuch. Sarah erschrak, als sie den Namen darauf las: Amelia Divine.
Sie warf Amelia, die immer noch schlief, einen verstohlenen Blick zu, klappte das Tagebuch dann auf und blätterte darin. Neben Einträgen enthielt es Gedichte. Das Papier war zwar feucht, aber die Tinte nur stellenweise verlaufen; sonst war es unversehrt.
Sarah seufzte vor Enttäuschung, setzte sich wieder ans Feuer und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Sie verglich ihr Leben mit dem Amelias. Zwei Jahre Knochenarbeit auf einer Farm, wo sie sich obendrein um mehrere Kinder kümmern musste, lagen vor ihr; dann hatte sie ihre Strafe verbüßt. Amelia hingegen konnte sich auf ein Leben voller Annehmlichkeiten freuen.
Während das Feuer sie wärmte, überließ Sarah sich ihren Träumen. Sie überlegte, wie es wäre, in die Haut von Amelia Divine zu schlüpfen. Lucy hatte ihr erzählt, dass die Ashbys, Amelias Vormünder, ihr Mündel viele Jahre nicht gesehen hatten. Sarah stellte sich vor, wie sie an Amelias Stelle willkommen geheißen, umsorgt und verwöhnt wurde. Sie malte sich aus, wie die Ashbys sie bemuttern und alles tun würden, damit es ihr an nichts fehlte …
Es spielte keine Rolle, dass Amelia nur an sich gedacht und Lucys Platz im Rettungsboot für sich beansprucht hatte. Es spielte keine Rolle, dass Amelia die Schuld an Lucys Tod trug. Falls ihr Erinnerungsvermögen nicht zurückkehrte, würde sie sich niemals für ihr Tun schämen müssen. Sie würde nie einen kummervollen Gedanken an Lucy verschwenden. Obwohl Sarah das Mädchen kaum gekannt hatte, verspürte sie ihretwegen maßlose Wut auf Amelia. Lucy stand in ihren Augen stellvertretend für alle Menschen, die von den Reichen mit Füßen getreten wurden.
Sarah war als Viertes von zehn Kindern einer Arbeiterfamilie aus Bristol geboren worden. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren wohlhabende Leute gewesen, denen es gar nicht gefallen hatte, dass ihre einzige Tochter den Fabrikarbeiter Reginald Jones heiratete. Doch Margaret hatte ein Kind von ihm erwartet, und so konnten sie nichts dagegen unternehmen. Margaret, eine gebildete junge Frau, war Lehrerin in Bristol. Dort hatte sie Reginald kennen und lieben gelernt. Margaret brachte auch ihren Kindern das Lesen und eine gepflegte Ausdrucksweise bei. Da sie nicht mehr unterrichten konnte, hatte sie damit angefangen, für die begüterten Damen in den besseren Stadtvierteln zu nähen.
Dann verlor Reginald seinen Arbeitsplatz in der Fabrik. Das Geld wurde knapp, und Margaret brachte die damals vierzehnjährige Sarah bei einer der reichen Familien unter, für die sie nähte, bei den Murdochs, für die Sarah zuerst als Küchenhilfe, später als Hausmädchen arbeitete.
Die Murdochs hatten zwei Töchter, Sherry und Louise. Beide waren Amelia sehr ähnlich: verwöhnte Gören mit schlechten Manieren, die Sarah nicht leiden konnten und ständig hänselten. Sie taten alles, um ihr das Leben schwer zu machen. Doch Sarah hielt tapfer durch – bis die Murdoch-Schwestern sie des Diebstahls bezichtigten. Sarah beteuerte ihre Unschuld, doch die Mädchen hatten ein Armband von Louise in Sarahs Manteltasche versteckt, wo ihr Vater es schließlich fand.
Sarah kam vor Gericht und wurde zu sieben Jahren Zwangsarbeit in Van-Diemens-Land verurteilt. Weinend nahm sie Abschied von ihrer Mutter. Der Schmerz, den man ihr zugefügt hatte, brach ihr schier das Herz. Nur die Hoffnung, ihre Eltern eines Tages wiederzusehen, hatte ihr die Kraft gegeben, die Jahre in der Ferne zu überstehen. Auch jetzt wieder kamen Sarah die Tränen, als sie an ihre Mutter und ihren Vater dachte.
Plötzlich hörte sie Stimmen. Neugierig spähte
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