Die Insel der roten Erde Roman
antwortete Evan. »Zieh dich an, ich warte draußen auf dich.«
3
Als sie sich den hüfthohen Mulga-Sträuchern näherten, sah Amelia, dass ein Weg in den Busch führte. Eigentlich war es eher ein Trampelpfad – zu schmal, als dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Evan stieß Amelia grob vor sich her, um sie stets im Auge behalten zu können. Weit würde sie bei einem Fluchtversuch zwar nicht kommen, doch Evan hatte Besseres zu tun, als sie zu suchen.
Amelia stapfte schweigend, fast wie in Trance, durch das Gestrüpp. Sie zitterte vor Kälte und nahm kaum wahr, wie die dornigen Äste an ihrem Kleid zerrten. Sie musste ihre ganze Kraft darauf verwenden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ihr Körper war mit blauen Flecken übersät, sämtliche Knochen taten ihr weh, und ihr Kopf pochte schmerzhaft bei jedem Schritt. Irgendetwas, auf das sie keinen Einfluss hatte, schien ihr Schicksal zu lenken. Sie wollte sich dagegen aufbäumen, wusste aber, dass ihre Anstrengungen vergebens wären. Vor allem konnte sie nicht glauben, eine Verbrecherin zu sein. Oder hatte sie tatsächlich etwas Schlimmes getan und es in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses geschoben, um es zu verdrängen? Nein, das war unvorstellbar. Irgendetwas stimmte nicht, da war sie ganz sicher.
»Wie weit ist es denn noch bis zu Ihrer Farm?«, wollte sie nach einigen Minuten wissen. Bei aller Verzweiflung musste sie tapfer sein und versuchen, so viel wie möglich über ihre Vergangenheit und das Leben herauszufinden, das nun vor ihr lag. Denn je mehr sie in Erfahrung brachte, desto eher würde sie möglicherweise entdecken, dass eine Verwechslung vorlag. An diese Hoffnung klammerte sie sich, sonst hätte sie sich womöglich von einem Kliff in die Tiefe gestürzt.
Bevor Evan antworten konnte, huschte plötzlich etwas über den Weg, und Amelia schrie erschrocken auf.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Evan gereizt und spähte über ihre Schulter.
»Haben Sie … haben Sie das gesehen?«
»Was?«
»Da war ein Tier!« Amelia taumelte rückwärts und trat Evan auf die Füße. »Eine riesige Ratte!«
Evan schubste sie vorwärts. »Eine Ratte? Was redest du für einen Unsinn! Das war ein junges Wallaby. Die gibt’s hier auf der Insel überall.«
Amelia blinzelte verwirrt. »Ein Wallaby?«
Evan wurde plötzlich klar, dass sie noch nie ein solches Tier gesehen hatte. »Das ist eine kleinere Ausgabe der Kängurus. Sie fressen mir mit Vorliebe mein Gemüse weg, aber ansonsten sind sie harmlos.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Amelia ängstlich.
»Wenn ich’s dir sage. Aber pass trotzdem auf, wo du hintrittst.«
»Wieso?«
»Weil es hier von Schlangen nur so wimmelt. Und jetzt beweg dich endlich. Es gibt eine Menge zu tun, und die Kleinen haben bestimmt Hunger, wenn Sissie ihnen nicht schon was zu essen gemacht hat.«
Außer dem Wort »Schlangen« hatte Amelia nichts von dem gehört, was er gesagt hatte. »Schlangen? Sind die giftig?«
»Einige schon.«
Sie wurde kalkweiß im Gesicht. Schnell schlüpfte sie hinter ihn.
»Was tust du denn da, zum Teufel?« Er versuchte, sie nach vorn zu zerren, doch Amelia wehrte sich verzweifelt.
»Bitte, gehen Sie voran! Ich will nicht auf eine Schlange treten!« Der Gedanke ängstigte sie umso mehr, als sie ihre Schuhe beim Schiffsuntergang verloren hatte.
Evan sagte sich, dass sie wahrscheinlich bei jedem Zweig, der auf dem Weg lag, loskreischen würde, und gab nach. »Na, meinetwegen, aber bleib dicht hinter mir.«
Amelia nickte heftig. Als sie weitergingen, achtete sie sorgsam darauf, wohin sie ihre Füße setzte. Nach einer Weile fragte sie: »Wie viele Kinder haben Sie denn?«
»Sechs.«
Sie blieb abrupt stehen. »Sechs!«
Evan drehte sich um und musterte sie grimmig. Sie musste doch wissen, wie viele Kinder er hatte! Das hatte man ihr doch sicherlich gesagt. »Ja. Fünf Mädchen und einen Jungen. Weißt du das nicht mehr?«
»Woher denn?«
Evan verdrehte die Augen. »Du scheinst tatsächlich entschlossen, diese Komödie weiterzuspielen.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen …«
»Ich mag solche Spielchen nicht, also hör lieber damit auf!«
Für Amelia sprach der Mann in Rätseln. »Aber …« , setzte sie an.
»Halt den Mund!«, fuhr Evan dazwischen. »Du weißt genau, dass ich sechs Kinder habe. Milo ist zwei. Jessie ist vier, Molly sechs, Bess acht, Rose zehn und Sissie fast dreizehn. Ihre Mutter ist vor einem knappen Jahr gestorben. Ich
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