Die Insel der roten Erde Roman
»Ich habe Tee gemacht. Nehmen Sie sich, wenn Sie möchten«, sagte er. Dann war er fort.
Rasch zog Sarah sich selbst und Amelia die nasse Kleidung aus und hängte sie zum Trocknen in die Nähe des Kamins. Nachdem sie Amelias Wunde versorgt hatte, schenkte sie sich Tee ein und setzte sich nahe ans wärmende Feuer. Wenn sie doch nur ein paar andere Kleidungsstücke für sich hätte, und nicht nur die Decke! Sie dachte an ihren Koffer. Es wäre ein Wunder, wenn er wieder auftauchte.
Als sie den Tee getrunken hatte, überkam sie tiefe Müdigkeit. Sie konnte kaum noch die Augen offen halten. Irgendwann musste sie eingenickt sein, denn nach einer Weile schreckte sie plötzlich hoch, weil Amelia laut stöhnte. Im ersten Moment glaubte Sarah, sie würden immer noch auf dem Felsenriff ausharren. Doch statt der rauschenden Brandung hörte sie nur den Wind, der ums Haus heulte. Sie dachte an den Leuchtturmwärter draußen auf See. Was, wenn er nicht zurückkehrte?
Amelia ächzte abermals. »Wo … bin ich?«, hauchte sie, als sie die Augen aufschlug.
»Wir sind im Haus des Leuchtturmwärters.«
Amelia betastete ihren Kopf und zuckte zusammen. »Mein Kopf tut so weh.«
»Sie haben ihn sich angeschlagen, als der Leuchtturmwärter Sie die Steilwand hinaufgezogen hat.«
»Steilwand?« Amelia machte ein verwirrtes Gesicht. »Was für eine Steilwand?« Sie betrachtete Sarah mit verwundertem Blick. »Wer sind Sie?«, flüsterte sie.
»Ich war an Bord der Gazelle «, antwortete Sarah, die sich über Amelias seltsam ausdruckslose Miene wunderte.
»Gazelle?«
»Wissen Sie nicht mehr? Das Schiffsunglück?«
»Schiffsunglück …?« Sie durchforschte ihr Gedächtnis nach irgendeiner Erinnerung, aber da war nichts. Absolut nichts. »Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt auf einem Schiff gewesen zu sein. Wohin wollte ich denn?«
Sarah musterte sie stirnrunzelnd. »Wissen Sie, welchen Tag wir heute haben?«
»Natürlich«, erwiderte Amelia sofort, musste dann aber überlegen. »Heute ist … äh …« Sie machte den Mund wieder zu und schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, welchen Monat wir haben oder welches Jahr.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Es wird Ihnen schon wieder einfallen. Ruhen Sie sich erst einmal aus«, meinte Sarah.
Amelia schloss erschöpft die Augen. Die Schmerzen in ihrem Kopf waren kaum zu ertragen. Vielleicht fiel ihr das Denken deshalb so schwer. Bestimmt würden ihre Erinnerungen früher oder später wiederkehren.
Sie nickte ein und schlief immer noch, als der Leuchtturmwärter zurückkam. Fast zwei Stunden waren vergangen, wie Sarah mit einem Blick auf die Uhr feststellte. Das Wetter hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt. Von den drei Gepäckstücken, die am Strand angespült worden waren und die Gabriel mit heraufgeschleppt hatte, sah eines wie ihr kleiner Koffer aus, stellte Sarah freudig fest.
»Sie haben ihn gefunden! Ich kann es kaum glauben.« Sie sah den Leuchtturmwärter dankbar an.
»Ich sagte doch, vielleicht haben Sie Glück.«
»Gibt es … gibt es sonst keine Überlebenden?«
»Ich habe keine gesehen.« Gabriel hatte auch keine Leichen erblickt, doch in der Bucht waren Haie. Das aber verschwieg er ihr. Stattdessen sagte er: »Und die Toten sind inzwischen von der Strömung die Küste hinuntergetrieben worden.«
Sarah besaß nicht viel: ein paar Kleider, Unterwäsche, ein Paar Schuhe zum Wechseln und einen Mantel. Doch jetzt kamen ihr diese Habseligkeiten wie ein kostbarer Schatz vor. Sie würde sich etwas anderes anziehen können. Das Kleid, das sie beim Untergang der Gazelle getragen hatte, sah arg mitgenommen aus.
Sie nahm ihren Koffer an sich. Der Leuchtturmwärter stellte die übrigen Gepäckstücke, darunter eine Geige in einem Geigenkasten, in eine Ecke und ging dann noch einmal hinaus. Sarah beobachtete durch das winzige Fenster, wie er zwei Fässer in den Vorratsschuppen rollte. Sie sahen wie Weinfässer aus. Wahrscheinlich hatte er sie mit Hilfe eines Frachtnetzes an der Winde nach oben geschafft. Da er lange fortblieb, nahm Sarah an, dass er zum Leuchtturm gegangen war.
Sie wandte sich dem Koffer zu. Das Schloss kam ihr irgendwie anders vor, und der Schlüssel war am Griff festgebunden. Ihren Schlüssel aber hatte sie in den Saum ihres Unterrocks eingenäht. Sträflinge sind misstrauisch, entweder von Natur aus oder aus Erfahrung. Sie betastete den Saum ihres nassen Unterrocks. Der Schlüssel war noch da. Sarah
Weitere Kostenlose Bücher