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Die Insel der roten Mangroven

Die Insel der roten Mangroven

Titel: Die Insel der roten Mangroven Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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in die Hand.
    »Deirdre, würdest du bitte mal halten … ich muss mir das ansehen …«
    Deirdre nahm die Lampe und meinte dann fast körperlich zu spüren, wie der Blick des Schwarzen sie traf. Der Mann schien sie vorher überhaupt nicht bemerkt zu haben, doch jetzt starrte er sie an wie eine Erscheinung. Rasch zog sie den Morgenmantel enger um sich – sie fühlte sich fast nackt, als der Unbekannte die Blicke über ihr offenes Haar, ihr zartes Gesicht und ihren schlanken Hals schweifen ließ. Trotz seiner Sorge um seinenGefährten erkannte sie in dem nur einen Herzschlag währenden Aufblitzen in seinen großen Augen Bewunderung. Oder war es Lüsternheit? Nein, sein Blick hatte nichts Verschlagenes oder Billiges. Er sah sie einfach nur an wie … wie … wie die Antwort auf seine Gebete?
    Deirdre griff sich an die Stirn. Was fuhr ihr da durch den Kopf? Sie musste verrückt sein … Energisch zog sie die Aufmerksamkeit von ihrem seltsamen Besucher ab und leuchtete ihrem Mann, der die Gestalt auf der Liege vorsichtig von der Decke befreite, in die sie gewickelt war. Hervor kam ein magerer halbwüchsiger Junge, ebenso schwarz wie der Mann, der ihn gebracht hatte, doch viel einfacher gekleidet. Der Kleine mochte ein Schiffsjunge sein oder ein Botenjunge vom Hafen. Auch die kleideten sich in karierte Hemden und halblange, weite Leinenhosen. Aber die Sachen des Jungen waren im rechten Unterleibsbereich durchgeblutet. Des Jungen?
    Deirdre hielt die Luft an, als Victor als Erstes das Hemd seines Patienten mit einer Schere aufschnitt. Es gab sehr kleine, jedoch unverkennbar vorhandene Brüste frei. Ein weiterer Schnitt, der die Hose des Verletzten durchtrennte, zerstörte die letzten Zweifel. Victor bedeckte die Blöße des jungen Mädchens rasch mit einem Tuch, bevor er den durchgebluteten Verband von der Wunde hob. Ein Stöhnen folgte.
    »Nicht … nichts verraten …«
    Victor strich sanft über die Stirn seiner Patientin. »Schon gut, Kind, niemand verrät dich …«, sagte er freundlich. »Wie heißt du denn?«
    »Bob…«, flüsterte das junge Mädchen.
    »Bonnie«, antwortete der Mann. »Sie heißt Bonnie. Sie hört auch auf ›Bobbie‹, sie …«
    »Ist sie deine … Ihre … Schwester?«
    Alles in Deirdre sträubte sich dagegen, diesen imponierenden Mann einfach zu duzen. Obwohl er ein Schwarzer war. Aber einSklave war er sicher nicht … »Afrikaner« war das richtige Wort. Sie hätte ihn Afrikaner genannt. Und schalt sich wieder ihrer seltsamen Einfälle. Der Mann sprach fließend Englisch, besser als die meisten Schwarzen. Er war ganz sicher nicht in Afrika geboren. Und nicht auf Saint-Domingue …
    »So etwas in der Art …«, druckste Jefe.
    »Und dein Name?«, erkundigte sich Victor.
    Auf ihn schien der Zauber des Mannes offenbar nicht zu wirken, er behandelte ihn wie jeden anderen Angehörigen eines schwarzen Patienten oder eines Mischlings, vielleicht sogar mit mehr Argwohn. Inzwischen musste auch ihm aufgefallen sein, wie seltsam dieser späte Besucher war.
    »Caesar.« In der Stimme des Mannes schwang Stolz mit. »Können Sie ihr helfen?«
    Victor hatte sich die Wunde kurz angesehen und fuhr nun damit fort, Bonnie sorgfältig zu untersuchen.
    »Die anderen Verletzungen sind nicht schwer«, meinte Jefe ungeduldig. »Es ist nur dieser Schnitt …«
    »Sie sieht aus, als wäre sie unter einem eingestürzten Haus begraben gewesen«, bemerkte Victor. »Was ist da passiert, Caesar?«
    Der Mann antwortete nicht. »Können Sie ihr helfen?«, wiederholte er nur.
    Victor seufzte. »Ich werde es versuchen«, meinte er dann. »Die Wunde ist an sich nicht tödlich, sie hätte nur von Anfang an besser versorgt werden müssen. Da stecken ja jetzt noch Holzsplitter drin, kein Wunder, dass sie sich entzündet hat. Und jetzt liegt die junge Frau schon im Fieber, und ihr Allgemeinzustand ist auch nicht der beste. Sie ist viel zu mager, ausgezehrt fast. Und klein für ihr Alter. Wie alt ist sie? Fünfzehn, sechzehn?«
    »Achtzehn«, sagte Jefe. »Nehmen … nehmen wir jedenfalls an …«
    Deirdre runzelte die Stirn. Wenn sie wirklich seine Schwester wäre, hätte er das wissen müssen. Aber das Mädchen sah ihm auch in keiner Hinsicht ähnlich. Der Mann war außerordentlich gut aussehend, wirkte verwegen, anziehend … während das Mädchen bestenfalls unscheinbar zu nennen war. Ihr Gesicht war knochig, die Züge grob … wenn sie sich tatsächlich als Bobbie ausgegeben hatte, war es sicher niemandem

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