Die Insel der roten Mangroven
mehr als eine Stunde, bis Victor Bonnies Wunde gereinigt hatte. Er wusch dem Mädchen auch Schweiß und Blut vom Körper, bevor er den Verband erneuerte.
»Du hast vielleicht ein Nachthemd für sie?«, fragte er Deirdre. »Oder sollen wir Amali fragen?«
Deirdres Nachthemden waren feinste seidene Kreationen, die mehr zeigten, als sie verhüllten – und natürlich waren sie sehr kostspielig gewesen. Deirdre zögerte trotzdem keinen Herzschlag lang.
»Nein, nein, dafür müssen wir Amali nicht wecken«, entgegnete sie rasch. »Ich hole eines, ich …«
Als Deirdre an Jefe vorbeilief, erschauerte sie. Sie fragte sich erneut, was mit ihr nicht stimmte, doch dann lief sie rasch hochin ihr Schlafzimmer und riss das erstbeste Nachthemd aus dem Schrank. Es war goldgelb und aus Seide mit Spitzenbesatz.
Jefe zog scharf die Luft ein, als Deirdre Victor gleich darauf half, Bonnie das elegante Hemd überzuziehen. Das magere Mädchen sah fast schön darin aus, das zarte Gespinst betonte auch die unscheinbarste Figur. Deirdre meinte zu spüren, dass der Schwarze Bonnie gleichwohl nur kurz mit den Blicken streifte, bevor er sich erneut auf sie selbst konzentrierte. Sie meinte, seine Gedanken und Fantasien lesen zu können, meinte, ihr eigenes Bild in diesem Seidenhemd vor seinem inneren Auge zu sehen. Wieder zog sie den Morgenmantel enger um sich – und fühlte Jefes Lächeln dennoch auf ihrer Haut.
»Also gut«, bemerkte Victor schließlich, »dann bringen wir sie mal in eines unserer Gästezimmer. Ich darf gar nicht daran denken, was mein Vater dazu sagen würde.«
Er zwinkerte Deirdre zu. Diese Zimmer waren immerhin ursprünglich für die Dufresnes angelegt. Entsprechend luxuriös musste die Einrichtung auch ihren seltsamen Gästen erscheinen. Deirdre wusste nicht, was sie von dem großen Schwarzen erwartete, doch dann zeigte der überhaupt keine Reaktion auf die Seidentapeten, das Himmelbett und die Louis-XIV.-Stühle und Tischchen, mit denen das improvisierte Krankenzimmer möbliert war. Allenfalls schien sein Blick Geringschätzung auszudrücken. Victor bemerkte das wohl auch. Nachdem er Bonnie in die Kissen gebettet und zugedeckt hatte, wandte er sich misstrauisch an Jefe.
»So, die Kleine ist vorerst versorgt, ich gebe ihr nur gleich noch etwas gegen das Fieber. Und nun zu dir, Caesar. Dein Eigentümer hatte wohl ein Faible für das alte Rom …«
Jefe fuhr auf. »Ich habe keinen Eigentümer, Doktor. Ich bin ein freier Mann. Und sie …«, er wies etwas hilflos auf Bonnie, »sie ist auch frei, sie …«
»Sie ist einfach nur aus Spaß als Junge zur See gefahren«,spottete Victor. »Und nicht etwa, weil sie vor etwas weglief … Raus mit der Sprache! Wo liegt euer Schiff? Und wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Ihr Schild am Haus«, sagte Jefe.
Er hatte sich der Arztpraxis durch den Wald genähert und eben am Haus vorbei auf die Straße nach Cap-Français laufen wollen, als er das Praxisschild am Eingang entdeckte. Ein Glücksfall.
»Und das Schiff?«, wiederholte Victor seine Frage, als sein Besucher keine Anstalten machte, weitere Auskünfte zu geben.
Jefe biss sich auf die Lippen. Seine Augen zuckten, er war ein ungeschickter, ungeübter Lügner. »Im Hafen, Doktor, Sir. Wir … wir kommen aus Martinique, wir haben da angeheuert, weil …«
Victor schüttelte den Kopf. »Ihr kommt nicht aus Martinique oder einer anderen französischen Kolonie«, sagte er streng. »Denn dann hättest du mich nicht auf Englisch angesprochen. Du solltest nachdenken, bevor du mich anlügst.«
Jefe rieb sich die Stirn. »Aus Barbados … Verzeihung, Sir. Ich meinte, wir … wir kommen über Martinique, das Schiff hat da gehalten, weil …«
»Und du bist Matrose, ja?«, fragte Victor mit ironischem Lächeln. »Oder Kapitän? Deiner Kleidung nach zu urteilen würde ich auf Schiffseigner schließen. Vielleicht besitzt du ja gar ein Luftschiff? Das würde erklären, wie du an meinen Sklavenquartieren vorbeigekommen bist, ohne jemanden zu wecken. Verdammt noch mal, junger Mann, hör auf, so dreist zu schwindeln. Wo liegt das Piratenschiff, von dem du kommst? Nebenan in der Bucht? Muss ich damit rechnen, dass hier morgen die Gendarmen vor der Tür stehen, wenn ich das Mädchen weiter behandle?«
Seine Stimme klang scharf, und Deirdre blickte voller Überraschung von ihm zu Jefe, der bei seinen Worten erst den Blick gesenkt hatte, sein Gegenüber jetzt aber anfunkelte.
»Keine Angst, Doktor, Sir … Das Schiff
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