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Die Insel der roten Mangroven

Die Insel der roten Mangroven

Titel: Die Insel der roten Mangroven Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lark
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Victors Hilfe verlangte. Doch normalerweise meldete sich der Bote oder ein Angehöriger zuerst im Sklavenquartier, Amali schloss die Behandlungsräume auf und ließ die Leute dort warten. Dann weckte sie Victor behutsam. Da er einen leichten Schlaf hatte, genügte meist ein dezentes Klopfen. Deirdre wurde dann in der Regel nur kurz wach, wenn Victor aufstand und sie zum Abschied küsste. Danach drehte sie sich zufrieden um und schlief weiter. In dieser Nacht dagegen … Der Hilfesuchende traktierte die Tür in einer Lautstärke, als wollte er Tote aufwecken, er musste es aber andererseits geschafft haben, zum Haupthaus zu kommen, ohne die Dienerschaft zu alarmieren.
    Victor stand hastig auf, hüllte sich schnell in seinen seidenen Schlafrock und lief hinunter, um die Tür selbst zu öffnen. Auch Deirdre erhob sich, warf einen leichten Morgenmantel über und folgte ihrem Mann die Treppen hinunter. Sie wollte wissen, wer hier so ungestüm Einlass begehrte. Er musste es eilig haben. Womöglich ging es um Leben und Tod.
    Victor riss schließlich die Tür auf, und Deirdre sah ihren Mann einem hünenhaften Schwarzen gegenüberstehen, der eine in eine Decke gehüllte, viel kleinere Gestalt in den Armen trug. Der Besucher wirkte seltsam. Verwirrt erfasste Deirdre eleganteKniehosen zu nackten Füßen – kräftigen, sehnigen Füßen – und muskulöse Beine. Der Mann trug ein zerknittertes Spitzenhemd und einen offenen seidenen Rock. Deirdre hatte einen solchen Aufzug bislang nie an einem Sklaven gesehen und erst recht nicht an einem freien Schwarzen. Für freigelassene Sklaven war derlei Kleidung schlicht zu teuer, und die Uniformen der Diener in reichen Häusern waren zwar aufwendig gearbeitet – doch nicht so stutzerhaft und modisch geschnitten wie das Jackett dieses Mannes. Die Kleidung spannte über seiner Brust und ließ gewaltige Brustmuskeln erkennen.
    Victor hob die Gaslampe, die er noch im Korridor rasch entzündet hatte, und leuchtete dem Besucher ins Gesicht. Der Mann keuchte. Er schien etwas sagen zu wollen, war aber wohl zu angestrengt nach einem raschen Lauf oder vielleicht auch zu überrascht, dass ihm so schnell jemand öffnete. Jedenfalls brachte er zunächst kein Wort heraus. Deirdre blickte in ein von krausem Haar umrahmtes Gesicht, sicher reinblütig schwarz und edler als das vieler anderer Afrikaner. Seine Wangenknochen und seine Stirn waren höher als gewöhnlich, die Nase aber ausgeprägt und breit, ebenso die Schläfenknochen. Das Haar des Mannes war viel länger, als die meisten Schwarzen es trugen. Deirdre bemerkte, dass es nachlässig im Nacken zusammengebunden war. Dieser Mann war sicher nicht mit einer Kutsche hergekommen, er musste gerannt sein. Oder kam er womöglich gar nicht aus Cap-Français, sondern vom Strand? Das würde die Sache mit dem Sklavenquartier erklären. Die Wohnungen der Schwarzen lagen zwischen Haus und Straße. Wenn man aus dem Wald kam, der die Siedlung vom Strand trennte, passierte man sie nicht.
    Victor schienen all diese Überlegungen fernzuliegen. Er schaute nur besorgt auf das in Decken gehüllte Bündel, das der Mann in den Armen trug. »Wie kann ich dir helfen?«, fragte er kurz. »Oder … ihm?«
    Der Mann kam endlich zu Atem. »Mir fehlt nichts … äh … Sir … Doktor …«, stieß er hervor, zu Victors und Deirdres Überraschung auf Englisch. »Aber … er … sie … ist verletzt …« Er schien Anstalten machen zu wollen, dem Arzt seinen Patienten gleich hier zu übergeben.
    Victor überlegte nicht lange. Er hielt dem Mann die Tür auf und wies auf den Korridor, der die Wohnräume der Familie von seinen Praxisräumen trennte.
    »Dann bring ihn … oder sie … mal hier hinein. Da, dort durch die Tür, da ist meine Praxis.«
    Auch Victor wechselte in die englische Sprache. Der Mann schien darüber nicht überrascht. Ob er häufige Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen gewöhnt war? Deirdre bestätigte das in der Annahme, einen weitgereisten Seemann vor sich zu haben.
    Deirdre hätte sich jetzt zurückziehen können, aber sie folgte ihrem Mann und dem großen Schwarzen wie hypnotisiert. Der Fremde schien erleichtert zu sein, als er seine Last auf Victors Behandlungsliege ablegen konnte. Wobei er den Patienten mühelos getragen hatte, er war wohl nur froh, die Verantwortung an Victor weitergeben zu können. Der Arzt nahm sich nicht einmal die Zeit, eine weitere Lampe zu entzünden. Er sah sich nach Deirdre um und drückte ihr dann die Gaslaterne

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