Die Insel der roten Mangroven
können. Amali hatte natürlich erneut Argwohn geschöpft. Wieder einmal schimpfte die Zofe – und fing Nora dann trotzdem ab, als diese ihrer Tochter folgen wollte. Deirdre hatte nicht gemerkt, dass ihre Mutter keine Mittagsruhe hielt wie die Dufresnes, sondern sich im Korridor auf die Lauer legte. Sie hatte sich, versteckt hinter einer goldgeschmückten, voluminösen Anrichte, auf einem Sofa platziert und machte jetzt Anstalten, ihrer Tochter zu folgen. Amali trat ihr in den Weg.
»Gehen Sie nicht, Missis, bitte. Es ist besser, Sie bleiben hier.«
Nora stieß scharf die Luft aus und machte Anstalten, Amali zur Seite zu schieben. »Nun deck sie nicht auch noch, Amali!«, befahl sie unwirsch. »Denn sie geht doch zu ihrem Liebhaber, oder? Es hat wieder angefangen. Wer ist es, Amali?«
Amali schaute verlegen zu Boden. »Glauben Sie mir, Missis, Sie möchten es nicht wissen«, sagte die Zofe. »Es wäre … es wäre zu peinlich, es …«
»Es stimmt also«, meinte Nora streng. »Meine Tochter trifft sich erneut mit dem Mann, der deinen Angaben zufolge nicht mehr da sein soll. Oder ist es ein anderer?«
Amali schüttelte den Kopf. »Es war einfach Pech«, seufzte sie. »Es gibt so viele Plantagen, warum er ausgerechnet hierherkommen musste … und Deirdre lief ihm natürlich auch gleich über den Weg. Ich konnte das nicht ahnen, Missis. Ich hab ihr auch schon den Kopf gewaschen. Doch sie … sie will ja nicht hören.« Die junge Frau klang resigniert.
Nora schob sie jetzt entschieden aus dem Weg. »Amali, bei aller Liebe, aber ich schätze, es muss ihr mal jemand den Kopf waschen, der da mehr Erfahrung hat! Und das werde ich jetzt übernehmen, ob es der jungen Dame peinlich ist oder nicht. Ich …«
»Es ist für … für Sie peinlich«, murmelte Amali. »Es ist für alle sehr unangenehm, es …«
»Mädchen, ich hab auf dieser Welt schon viel erlebt, und mir ist nur noch sehr wenig unangenehm«, beschied Nora sie resolut. »Nun geh mir endlich aus dem Weg, sonst verliere ich sie aus den Augen. Oder kannst du mir vielleicht einfach sagen, wo ich sie finde? Und … ihn?«
Amali schüttelte den Kopf. »Ich … ich weiß nicht«, stammelte sie. »Aber die Richtung … die Richtung ist sicher Roche aux Brumes.«
Genau das hatte Nora erwartet, und sie fand die Spur ihrer Tochter auch sehr schnell wieder. Es hatte schließlich gerade erst erneut geregnet, die Wege waren mal wieder verschlammt, und Deirdres zierliche Füße hinterließen charakteristische Abdrücke. Nora hatte schon im Korridor gesehen, dass ihre Tochter barfußwar. Es ließ sie lächeln, wunderte sie jedoch auch. Würde ihr Liebhaber, der doch sicher ein reicher Pflanzer oder gar Adliger war, dies nicht befremdlich finden?
Nora folgte Deirdres Spur durch den Park zur Kaffeeplantage. Sie ließ das Sklavenquartier links liegen, was Nora klar war, schließlich traute sie ihrer Tochter keine Affäre mit einem der Aufseher zu. Diese Männer waren fast alle schlecht erzogen und brutal, Nora mochte gar nicht daran denken, dass ihre Deirdre sich in einen von ihnen verliebt haben könnte.
Inzwischen war die Sonne nach dem mittäglichen Guss wieder aufgegangen, und von den Wegen stieg erneut Dunst auf. Nora geriet ins Schwitzen. Auf Jamaika war die Regenzeit nicht gar so extrem – oder vielleicht empfand sie das auch nur so, weil die Luft am Meer ja stets frischer war. Nora vermisste Cascarilla Gardens – so nett es in Cap-Français war und so pompös auf Nouveau Brissac –, aber sie konnte auf keinen Fall heimkehren, ohne herauszufinden, was mit Deirdre nicht stimmte.
Nora merkte auf, als die Wirtschaftsgebäude der Plantage in Sicht kamen. Gut möglich, dass der Treffpunkt hier lag, um diese Jahreszeit suchte man sich lieber einen überdachten Ort für ein Schäferstündchen. Und tatsächlich führte Deirdres Spur zu einem der Schuppen und vereinigte sich kurz davor mit den Fußspuren eines offensichtlich großen Mannes – der ebenfalls barfuß ging!
In Nora stieg eine Ahnung auf, und dann hörte sie Gelächter aus dem Schuppen, Schmeicheleien, Zärtlichkeiten, Geflüster auf Englisch. Immerhin fließendes Englisch. Also doch kein Sklave?
Nora überlegte nicht lange. Sie riss die Tür auf.
KAPITEL 12
D as Erste, was Nora beim Betreten des Schuppens ins Auge fiel, war Deirdres Ehering. Er befand sich in einem der Wandregale, gleich neben der Tür, damit Deirdre später ja nicht vergaß, ihn wieder anzulegen. Der Ring war sorglich
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