Die Insel der roten Mangroven
»Den schwarzen Verletzten oder den weißen?« Er grinste.
»Beiden«, erklärte Victor ernst. »Mein Eid verpflichtet mich, keine Unterschiede zu machen.«
Die Männer lachten.
»Schau an, sein Eid verpflichtet ihn«, sagte der zweite Gendarm. »Sie hätten also auch einem Kerl wie … Macandal geholfen?«, fragte er dann.
»Die Frage stellte sich mir nicht«, antwortete Victor zweideutig. »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt in Ruhe ließen. Ich brauche etwas Schlaf. Es war ein langer Tag.«
»Nicht gar so schnell, Doktor. Erst einmal hätten wir gern noch den Namen des Patienten, bei dem Sie waren. Wir würden das gern überprüfen …«
Victor überlegte fieberhaft. Sollte er einfach irgendjemanden nennen? Die Montands vielleicht? Aber würden die ihn wirklich decken? Zumal er sie nicht vorwarnen konnte, wenn diese Männer sein Alibi wirklich gleich überprüften.
»Ich kann Ihnen den Namen meines Patienten nicht nennen«, erklärte er stattdessen. »Da besteht Schweigepflicht. Und der Mann ist schwer krank. Es könnte ihn umbringen, wenn Sie da jetzt hineinpoltern würden und irgendetwas ›überprüfen‹ wollten …«
Die Gendarmen lachten.
»Sieh an! Ein unbekannter Patient!«, spottete der eine.
»Ein unsichtbarer vielleicht?«, scherzte der andere und hob seine Laterne. »Womöglich gar … ein Geist?«
Victor hoffte, dass ihm die Wahrheit nicht im Gesicht geschrieben stand. Er war immer ein schlechter Lügner gewesen, und nach den Anstrengungen der letzten Stunden war er zu Tode erschöpft.
»Wir sind angewiesen worden, nach Leuten wie Ihnen Ausschau zu halten, Dr. Dufresne«, sagte der erste Gendarm, diesmal mit deutlich bedrohlichem Unterton. »Der Chef der Gendarmerie meint, Macandal sei schwer verletzt gewesen, als er floh. Er würde einen Arzt brauchen. Tatsächlich wurden wir gezielt hier und vor den anderen Häusern der Ärzte und Wunderheiler postiert. Und siehe da, der Doktor läuft uns direkt in die Arme … und stinkt nach Rauch und Unrat.« Er schnüffelte an Victors Kleidung.
Victor wappnete sich für eine Verhaftung. Er brauchte eine gute Geschichte, doch er war nicht mehr fähig, sich eine auszudenken. Verzweifelt schloss er die Augen. Er sehnte sich nach Sicherheit.
»Nach Rauch und Unrat?« Sowohl Victor als auch die Gendarmen erschraken, als sie plötzlich eine schrille Frauenstimme hinter der Tür hörten. »Wohl eher nach Fusel und billigem Parfüm! Aber sie treiben’s natürlich hinter den Garküchen am Hafen. Schon möglich, dass er auch nach Rauch vom Grill stinkt. Du warst doch wieder bei dieser Hure! Leugne es nicht!«
Deirdre Dufresne riss die Haustür auf und trat heraus. In ihrem beleuchteten Eingang wirkte sie wie eine Furie, die nicht mehr zu halten war. Sie hatte den Morgenmantel gerade so weit geschlossen, dass es nicht gänzlich unzüchtig wirkte, aber doch so, dass die Blicke der Gendarmen unwillkürlich auf ihren Ausschnitt fielen. Ihr lockiges schwarzes Haar hing ihr wirr ins Gesicht, ihre Augen sprühten Funken, und ihre Lippen waren böse verzogen. Die fleischgewordene Empörung.
»Er kam doch aus dem Hafenviertel, oder? Aus dem Mulattenviertel … Decken Sie ihn ja nicht, meine Herren … die halbe Stadt weiß es, nur ich sollte nie was erfahren! Aber ich weiß es längst, Victor! Sie heißt Luna. Es ist doch immer noch Luna?«
Der erste der Gendarmen fiel ihr ins Wort. »Beruhigen Sie sich, Madame! Es liegt uns fern, irgendjemanden zu decken. Aber Ihr Gatte, sofern es sich bei Dr. Dufresne um Ihren Gatten handelt … kam in der Tat aus Richtung Hafen.«
»Sag ich doch!« Deirdre nickte wild. »Er treibt sich herum, Monsieur le gendarme , mein feiner Gatte! Er treibt’s mit den schwarzen Weibern! Aber ich sage dir, Victor, das wird noch böse enden … Du siehst, wie weit es gekommen ist, heute bringen dich die Gendarmen heim, morgen landest du im Gefängnis!« Sie spuckte wütend aus. »Schämen solltest du dich!«
Die zierliche junge Frau fixierte Victor mit so hassverzerrtem Gesicht, dass er ihr die rechtschaffene Erregung fast selbst geglaubt hätte. Dann schien sie sich mühsam zu beherrschen und wandte sich an die Gendarmen.
»Was hat er gemacht, Messieurs? Wieder …«, sie überlegte krampfhaft, was man wohl anstellen musste, um im Hafenviertel wegen Hurerei verhaftet zu werden, »… wieder unzüchtige Handlungen in der Öffentlichkeit? Und betrunken ist er natürlich auch.« Deirdre schüttelte missbilligend
Weitere Kostenlose Bücher