Die Insel der roten Mangroven
schlecht.«
»Er ist immer noch bei Bewusstsein?«, fragte Jefe und wies dann kurz auf die Frau und Victor. »Mireille Macandal, seine Frau. Und das ist Dr. Dufresne.«
Die Frau schien kurz davor, sich vor ihm zu Boden zu werfen.
»Sie sind wirklich gekommen? Ich danke Ihnen, ich … ich hätte es nicht geglaubt. Aber nun schnell, bitte … Er ist bei Bewusstsein, ja, das … das macht es ja noch schlimmer …«
Mireille lief voraus in einen stickigen kleinen Raum. An einer Wand lehnten zwei weitere Männer und eine große, sehr schlanke Frau. Sie alle sahen auf ein primitives Bett, auf dem eine schmale Gestalt unter schmutzigen Leintüchern lag. Es roch nach Rauch, verbranntem Fleisch und Blut, nach Schnaps – und natürlich zogen die Essensdünste von der Schenke aus in den Raum. Victor atmete trotzdem tief ein. Er musste sich an den Gestank gewöhnen, wenn ihm übel wurde, konnte er nicht arbeiten. Der Mann auf dem Bett rührte sich, aber er schien seine Bewegungen nicht kontrollieren zu können. Victor sah auf den ersten Blick, dass er krampfte. Sein Körper bäumte sich auf, die mit Brandblasen bedeckte Hand krallte sich in die Decke.
Victor ging zu seinem Patienten und sah in ein schweißbedecktes, rußgeschwärztes, aber weitgehend unversehrtes Gesicht,das verzogen war zu einer Maske des Schmerzes. Zwischen den Zähnen steckte ein Holzstück, auf das Macandal beißen konnte.
Mireille trat zu ihm und legte ein nasses, kühlendes Tuch auf seine Stirn. »Dies ist ein Doktor, François. Er wird dir helfen.«
Macandals Krampf war abgeflaut, aber sein Körper zitterte unkontrolliert. Plötzlich spuckte er das Holzscheit aus und blitzte Victor und Mireille an.
»Will … will keinen weißen Arzt …«
Mireille fuhr fort, ihm den Schweiß abzutupfen. »Ein schwarzer ist gerade nicht verfügbar«, bemerkte sie beißend.
Victor nannte höflich seinen Namen und bat, die Leinendecke anheben zu dürfen. Macandal stöhnte auf, als er es tat. Das Tuch war an vielen Stellen mit Wundflüssigkeit durchtränkt und hatte wohl an seinen Wunden gehaftet.
Macandal war nackt unter dem Leintuch – sofern man von den Resten des Hinrichtungsgewandes absah, die mit dem rohen Fleisch verschmolzen waren. Offensichtlich hatte bislang niemand versucht, seine Wunden zu behandeln, was Victor nicht wunderte. Selbst ihm blieb beim Anblick von Macandals geschundenem Körper vor Entsetzen die Luft weg. Die Arme und Beine des Mannes, der Oberkörper … alles war verbrannt, die wenige verbliebene Haut warf Blasen, die mit Wundflüssigkeit gefüllt waren. Der junge Arzt überlegte, wo er anfangen sollte, Salbe aufzutragen und Bandagen anzulegen – und kam zu dem Schluss, dass es sinnlos war, den Sterbenden noch mehr zu quälen.
»Es ist aussichtslos«, sagte er tonlos. Dann wurde ihm bewusst, dass sein Patient immer noch bei vollem Bewusstsein war. »Es tut mir leid … Monsieur …« Victor zwang sich, Macandal ins Gesicht zu sehen. »Ich … ich könnte jetzt versuchen, Ihre Wunden zu säubern und zu bandagieren. Aber ich … es wäre völlig sinnlos. Sie sind zu schwer verletzt, Monsieur Macandal. Sie werden sterben, egal, was ich tue. Und die Behandlung wäresehr schmerzhaft … noch schlimmer als das, was Sie jetzt schon durchmachen. Andererseits könnte ich … ich habe starke Medikamente mitgebracht. Sie würden Ihnen nicht helfen, aber sie könnten Ihre Schmerzen lindern …«, er zögerte, »… allerdings würden sie die Qual auch … abkürzen.« Eine hohe Opiumgabe würde das Sterben bei einem so geschwächten Organismus beschleunigen.
Macandal nickte. »Ich … ich weiß, dass ich sterbe«, stieß er aus. »Und ich … ich kann das aushalten.« Er stöhnte auf, als sein Körper sich erneut aufbäumte.
Victor öffnete seine Tasche, nahm eine Flasche heraus und setzte sie Macandal an die Lippen. »Trinken Sie«, sagte er sanft. »Jeder hier weiß, dass Sie stark sind. Sie müssen nichts beweisen.«
Er atmete auf, als der Rebellenführer schluckte. Dann breitete er das Leintuch wieder über seinen Körper.
»Es dauert ein paar Minuten, dann wird es Ihnen besser gehen.«
Victor hörte die Männer miteinander flüstern. »Er gibt ihm Gift! Er ihn bringt um!«
»Was soll er sich die Mühe machen?«, fragte Jefe dagegen beruhigend. »Wir sehen doch alle, wie es ihm geht. Ich … ich hatte gehofft, dass ein Arzt …«
Victor wandte sich den Männern zu, der schluchzenden Mireille und der schlanken
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