Die Insel Der Tausend Quellen
ich gebe ihnen Gestalt.«
»Wie wir alle«, sagte die Obeah-Frau. »Aber zu dir kommen sie lieber. Bitte ruf für uns die Geister, Nanny!«
Nora gewöhnte sich an die monotonen Gesänge der Queen, die gelegentlich von schrillen Schreien unterbrochen wurden, während sie selbst an Tolos Seite um Dougs Leben kämpfte. Die Frauen verbanden die Wunden, badeten sie nach Noras Rezepten, legten Kompressen mit Blättern auf, auf deren Wirkung Tolo schwor. Sie flößten ihm Quassia-Tinktur gegen das Fieber ein und einen Tee aus der Rinde des Pimentbaums, der kräftigend wirken sollte. Trotz Noras Protesten verbrannte Tolo Bitterholz und andere Kräuter, um die allgegenwärtigen Fliegen zu vertreiben, die den Kranken quälten. Nora musste zugeben, dass sie besser wirkten als Dedes Gewedel mit Palmblättern, wozu Princess die Kleine anhielt.
»Hab ich auch gemacht, als so klein war wie du!«, erklärte sie dem Mädchen.
Dede strahlte sie an. »Machen das alle Prinzessinnen?«
Niemand erklärte ihr, dass es meist die erste Arbeit war, zu der man Sklavenkinder heranzog.
All das untermalten Nannys Geisterbeschwörungen und Princess’ nicht minder beseeltes, aber weniger lärmendes Beten zur Heiligen Dreifaltigkeit. Nora hoffte, dass diese Geräuschkulisse sie wenigstens wach hielt. Trotz ihrer völligen Erschöpfung wollte sie sich nicht ausruhen. Simon war von ihr gegangen, als sie geschlafen hatte – und nun, da sie endlich das Gefühl hatte, den Kreislauf durchbrechen zu können, mochte sie dieses Risiko nicht eingehen.
Aber dann plötzlich sank das Fieber. Dougs Wunden schienen sich langsam zu schließen, der Fuß hatte nicht begonnen zu eitern. Irgendwann am dritten Tag, als Nanny einen besonders schaurigen Schrei zum Himmel herausließ, kam Doug zu Bewusstsein.
»Das kann … nicht die Hölle sein«, flüsterte er, als er in Noras strahlende grüne Augen blickte. »Obwohl es so riecht und sich auch … so anhört …«
Nora lächelte ihm zu. »Das sind nur Tolos Kräuter und Nannys Geister. Du solltest das alles nicht verachten. Ohne die zwei wärst du nicht mehr am Leben.«
»Ich träumte, ich wäre in unserer Hütte am Strand …«, sagte er leise.
»Haben wir da eine Hütte?«, fragte Nora verwundert. Die Hütte am Strand war Simons Traum gewesen, zu Doug gehörten die Pferde.
Doug nickte schwach. »Wenn … wenn er sie freigibt …«
Doug lag noch zwei Wochen lang in Noras Hütte, bevor sie ihm erlaubte, aufzustehen und seinen Fuß vorsichtig wieder zu belasten. Einige Tage später schaffte er es, auf Nora gestützt, bis zu Nannys Hütte in der Mitte des Dorfes. Die Queen hatte die beiden rufen lassen. Auf dem Weg durch Nanny Town begegneten sie niemandem. Nora führte das darauf zurück, dass alle bei der Arbeit waren, aber sicher spielte auch die Scham der Maroons eine Rolle. Ihre Führer hatten ihnen wohl recht deutlich gemacht, dass sie Akwasi nicht hätten gewähren lassen dürfen.
Nanny erwartete Nora und Doug auf ihrem Hocker. Wieder einmal kaute sie an einer Frucht, während sie die beiden anwies, sich auf Kissen vor ihr niederzulassen.
»Ich weiß, dass du noch schwach bist«, wandte sie sich an Doug, ohne sich mit größeren Vorreden oder gar Begrüßungen aufzuhalten. »Aber wirst du gehen können?«
»Wenn ich mich nicht tagelang durchs Gebirge schlagen muss«, meinte Doug, bevor Nora etwas einwenden konnte. »Bis nach Kingston würde ich es schaffen.«
»Dann geht«, sagte die Queen. »Ich schicke euch als Boten zu eurem Gouverneur. Ihr könnt ihm sagen, dass wir den Vertrag annehmen. Wir alle, alle Maroons in den Bergen, zumindest diejenigen, die mir und meinen Brüdern unterstehen.«
Sie sprach den Namen Akwasi nicht aus, aber es mochte noch andere Einzelgänger wie ihn in den Blue Mountains geben.
»Aber bestanden da nicht noch Meinungsverschiedenheiten?«
Nora konnte sich nicht bezähmen, diese Frage zu stellen. Im Dorf munkelte man, die gemeinsamen Geisterbeschwörungen von Nanny und Cudjoe hätten auch nicht viel an den unterschiedlichen Einstellungen zur Sklavenfrage geändert. Cudjoe wollte flüchtige Plantagensklaven zurückschicken, wie der Gouverneur forderte, Nanny mochte das nicht unterschreiben. Bislang bot Nanny Town jedem Asyl.
»Nicht mehr«, sagte sie jetzt. »Nicht mehr seit …« Sie warf einen Blick auf Doug und seinen bandagierten Fuß. »Cudjoe war immer der Ansicht, dass ein Mann, der sich von Sklavenjägern fangen lässt, sein Los verdient …«, die Queen
Weitere Kostenlose Bücher