Die Insel Der Tausend Quellen
aber ihr Blick auf den schwer verwundeten Mann in ihrem Arm sprach Bände.
Máanu zuckte wieder die Achseln. »Darüber beraten sie ja noch. Es kann sein, dass sie euch verschwinden lassen.«
»Was?«, fragte Nora entsetzt. Doug verzog schmerzvoll das Gesicht, als sie sich wütend aufsetzte. »Sie wollen uns umbringen? Nach alldem?«
»Sie können euch umbringen oder euch laufen lassen. Aber es macht einen schlechten Eindruck, wenn er so in Kingston ankommt.« Máanu wies auf Doug. »Und wenn er stirbt, dann können sie dich absolut nicht laufen lassen. Dann geht nur noch ›verschollen, Akwasi ist mit seiner weißen Nutte weg, und von Nora und Doug Fortnam hat Nanny Town nie was gehört‹.«
Nora rieb sich die Schläfe. »Warum lassen sie mich seine Wunden dann nicht versorgen?«, fragte sie.
Máanu hob die Brauen. »Darüber verhandeln sie ja gerade«, wiederholte sie.
Nora seufzte.
»Aber ich würde euch laufen lassen«, sagte Máanu. »Diese Muslime, diese Familie, die du freigelassen hast, Doug, würden euch helfen. Auf die Gefahr hin, dass sie wieder versklavt und bestraft werden. Aber der Mann meint, er könnte dich stützen oder tragen.«
Doug versuchte sich aufzurichten, aber Nora schüttelte den Kopf. »An den Wachen vorbei?«, fragte sie.
»Zu Tolo – wir könnten so tun, als brächten sie einen Verletzten zu ihr. Wenn die Trage verhüllt ist … Und dann könntet ihr Nanny Town umgehen …«
Sie brach ab. Máanu interessierte sich nicht sehr für Krankenpflege, aber sie wusste genug davon, um Dougs Zustand einzuschätzen. Auf dem direkten Weg kam man in einem bis zwei Tagen nach Kingston. Aber über die Berge würde es mindestens eine Woche dauern. Und es war Regenzeit. Der Kranke auf der Trage würde nach wenigen Stunden durchnässt sein, dazu durchgeschüttelt, fiebernd … Doug würde Kingston niemals lebend erreichen.
»Vergiss es«, sagte Nora leise. »Geh zu deiner Queen und sag ihr, wir unterwerfen uns ihrem Urteil. Wenn wir sterben müssen, damit es diesen Vertrag gibt, dann muss das wohl so sein. Aber frag sie, ob sie wirklich einen Vertrag will, der mit Blut geschrieben ist. Wenn das gut gehen soll auf Jamaika, mit Frieden zwischen den Weißen und den Maroons, dann müssen beide Teile verzeihen. Die Weißen haben Tausenden die Freiheit genommen, sie ausgepeitscht und verstümmelt. Die Maroons haben geraubt und gebranntschatzt – und ausgepeitscht und verstümmelt.«
»Der Gouverneur«, flüsterte Doug, »ist ein verständiger Mann. Er … wir …«
»Wir werden ihm erklären, was geschehen ist«, vervollständigte Nora und tupfte Doug den Schweiß vom Gesicht.
Máanu stand auf. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte sie dann. »Nanny ist …«
Nora biss sich auf die Lippen. Sie hatte eigentlich nicht bitten wollen. Sie wollte stolz sein, wie Doug am Richtplatz. Aber dann konnte sie nicht anders.
»Sie ist eine Frau«, meinte sie. »Sag ihr, dass ich nichts tun werde, das ihr schaden könnte, wenn sie mir nur den Mann lässt, den ich liebe.«
Máanu lächelte schwach. »Sie ist eine Königin. Die denken anders. Aber sie muss auch einmal eine junge Frau gewesen sein. Und vielleicht hat sie sogar mal für einen Obeah-Mann ein Huhn gestohlen …«
In den nächsten Stunden wartete Nora, während Doug in ihren Armen immer schwächer wurde. Das Fleisch an den Wundrändern schwoll an und entzündete sich, das Fieber stieg. Wenn Nora nicht bald etwas tun könnte, würde die Wunde am Fuß eitern. Doug konnte zumindest sein Bein verlieren. Er war jetzt auch schon kaum noch bei Bewusstsein – und Nora hoffte nur, dass ihn schöne Träume begleiteten. Wie damals in London beschwor sie die Liebe, den Strand und das Meer, wenn sie meinte, dass er sie hörte. Sie sprach mit sanfter Stimme auf ihren Geliebten ein – und verfluchte lautlos Akwasi, die Queen, Gott und alle Geister. Vielleicht fand es ja irgendein höheres Wesen komisch, dass sich ihr Leben im Kreis drehte, vielleicht konnte sie ihrem Schicksal einfach nicht entkommen. Die Kälte im Londoner Eastend, jetzt die glühende, stickige Luft in dieser Bambushütte auf Jamaika. Sie hatte die halbe Welt durchquert, nur um wieder ein Leben in ihren Armen verrinnen zu sehen.
Irgendwann wusste Nora selbst nicht mehr, ob sie wachte oder träumte, ob sie sich das Licht, das plötzlich mitten in der Nacht vor dem Eingang zur Hütte aufleuchtete, nur einbildete oder ob es wirklich da war. Und ob die schwarzen Hände, die Dougs
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