Die Insel Der Tausend Quellen
nicht so viel. Und die Blumen blühen. Lady Wentworth sagt, wir könnten uns hier gar nicht vorstellen, wie bunt es ist. Sogar die Vögel sind wie Blumen. Es gibt Kolibris … die sind ganz bunt und haben lange Schnäbel, und sie können in der Luft schwirren, als würden sie stehen …«
»… und sie saugen Nektar aus den Blüten«, sagte Simon leise. »Ich hab’s in deinem Buch gelesen …«
Er hatte zwar nur in der Kutsche kurz hineingesehen, aber Simon las schnell und war klug. Zweifellos stand ihm auch noch das Bild von den Palmen am Strand vor Augen.
»Stell dir vor, wir sind schon da …«, flüsterte er. Seine Stimme klang müde und voller Sehnsucht, aber Nora berauschte sich an ihrer dunklen Melodie. »Wir liegen in unserer Hütte am Strand, wir hören die Wellen rauschen und wir würden gern im Mondlicht tanzen, aber wir dürfen nicht hinausgehen, um die Schildkröten nicht zu stören … Sie vergraben ihre Eier im Sand …«
»Und wenn die kleinen Schildkröten schlüpfen, tragen wir sie rasch ins Wasser, damit die Möwen und Reiher sie nicht erwischen«, lachte Nora. »Und wir sehen ihnen zu, wenn sie wegschwimmen. Wir rufen ihnen einen Gruß nach, und wir küssen uns. Und deine Küsse schmecken nach Meer.«
Simon war der Erste, der einschlief, aber in der Nacht schrak er immer wieder auf, und Nora fürchtete, er würde sich die Seele aus dem Leib husten. Er regte sich auch kaum, als sie ihn am Morgen erneut wusch und ihm das Hemd wechselte. Sie bemühte sich zu scherzen, als sie den ersten Versuch machte, ihn zu rasieren.
»Ich mach’s besser, bevor ich den Arzt hole. Falls ich dir dabei die Kehle durchschneide, sparen wir das Honorar …«
Simon lächelte nur schwach. Es schien ihm schwerzufallen, ihren Worten zu folgen. Immerhin sah er ordentlich und gepflegt aus, als sie ihn schließlich verließ, um nun endlich Dr. Mason an sein Lager zu zwingen. Die junge Frau sah wohlgefällig auf die reinen weißen Kissen und Laken, in denen er ruhte, der Arzt würde einen guten Eindruck bekommen. Nora erinnerte sich, dass ihr Kindermädchen immer sehr darauf geachtet hatte, seinen Pflegling adrett aussehen zu lassen, wenn Dr. Morris kam, um ihre Hals-oder Bauchschmerzen zu behandeln. Dr. Mason war nun wirklich zu Hause, roch aber trotz des frühen Morgens schon nach Gin. Schließlich schloss er sich Nora an, um Simon anzusehen. Und tatsächlich nahm er noch rasch einen Schluck aus einer Taschenflasche, bevor er das Haus verließ.
»Das dient nur der Gesundheit …«, beschied er Nora, als er ihren missbilligenden Blick bemerkte. »Vor dem Wasser hier kann man nur warnen. Aber der Schnaps – nun, er scheint Krankheiten vorzubeugen. Bis jetzt hab ich mir hier jedenfalls weder die Schwindsucht noch die Cholera geholt.«
Nora hielt ihm zugute, dass er nicht aussah wie ein notorischer Trinker. Die erkannte sie schon nach wenigen Tagen im Eastend an ihren roten Nasen, ihren glasigen Augen und ihrem unsicheren Gang. Sie waren auch oft aufgeschwemmt – trotz der kargen Kost in den Armenvierteln. Dr. Mason dagegen war groß und dürr, seine voluminöse Perücke – längst aus der Mode und obendrein so verschlissen und ungepflegt, dass man meinen konnte, Vögel hätten darin ihr Nest gebaut – schien sich auf seinem Kopf aufzuplustern wie der Schopf eines Seidenhuhns. Auch Dr. Masons Jackett hatte schon bessere Tage gesehen, aber vielleicht machte sich der Arzt einfach nichts aus seinem Aussehen. An die Gassen des Eastend war er jedenfalls gewöhnt, seine ebenfalls etwas altmodischen, hochhackigen Schnallenschuhe wichen dem Unrat wie von allein aus.
»Es geht also um Ihren … Mann …?«, fragte er Nora, die nicht halb so anmutig zwischen den Pfützen hindurchbalancierte. Es war ein kalter, windiger Tag, und sie zog ihre Mantille eng um sich. Dr. Mason hatte dem Kleidungsstück einen kurzen, verwunderten Blick gewidmet. Einen wollenen warmen Umhang sah man wohl selten in diesem Teil Londons.
»Meinen Verlobten«, präzisierte sie. »Es ist eine hartnäckige Erkältung. Er laboriert schon Monate daran herum, aber jetzt bin ich ja da. Ich sorge für ihn … Wir wollen bald heiraten …«
Dr. Mason zog die Augenbrauen hoch und schürzte die Lippen, äußerte sich sonst aber nicht zu ihrem Geständnis.
»Mein … mein Verlobter ist ein Lord«, plapperte Nora verunsichert weiter. »Er … er ist nur in Not geraten, sein Vater …«
»Oh, die kleine Lady ist wieder da!«
Nora hielt Dr. Mason eben die Tür
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