Die Insel Der Tausend Quellen
Kolonien annehmen zu können. Jamaika … Barbados …
Nora hatte in seiner Stimme all die Sehnsucht mitschwingen hören, die sie selbst empfand, wenn sie Bilder von den Stränden der Karibik sah, wenn sie die Familien der Pflanzer von warmen Nächten und glühend heißen Tagen reden hörte, von bunten Vögeln und Schmetterlingen, riesigen Blumen, die betörend dufteten.
Die etwas rüde Antwort ihres Vaters, in Übersee sei auch nicht alles Gold, was glänze, hatte Simon überhört. Genauso wie Nora die Ohren verschloss, wenn Thomas Reed ihre eigenen Südseeträume lächerlich machte. Und dann war der junge Mann irgendwann aus dem Kontor ihres Vaters gekommen, und sie hatte die Sonne in seinen Augen gesehen. Er seinerseits erkannte das Buch über die Reisen des Christoph Kolumbus in ihrer Hand. Schließlich waren sie darüber ins Gespräch gekommen, und in der nächsten Zeit hatte Nora auffällig oft im Kontor ihres Vaters zu tun. Irgendwann verlegten die beiden ihre Treffen dann heimlich in den St. James’ Park. Sie schlenderten zunächst am See entlang, suchten immer verstecktere Wege, und am Ende küssten sie sich unter dicht herabhängenden Weiden am Wasser und träumten von ihrer Hütte am Strand. Simon erzählte von der Entdeckung und Erschließung der Inseln im Karibischen Meer, von Piratennestern und Tabakplantagen, von Seeschlachten und Handelsbeziehungen. Er wusste viel über die Geschichte der Region, in die es ihn zog, und Nora bewunderte ihn dafür.
Jetzt aber, in der frühen, herbstlichen Dunkelheit ihrer Mansarde, war es nur noch Nora, die redete, Luftschlösser baute und Geschichten erzählte.
»Wir haben natürlich keine Sklaven!«, erklärte sie kategorisch – die kurze Auseinandersetzung mit Lady Wentworth hing ihr noch nach. »Wir brauchen gar nicht so viel Personal.« Nora fand das einfache Leben in ihrem winzigen Zimmer durchaus befriedigend. Natürlich war manche Arbeit sehr schwer und anstrengend, und auf Mrs. Paddington hätte sie jederzeit verzichten können. Aber andererseits bewegte man sich nicht ständig unter dem Blick neugieriger Augen der Dienerschaft und musste nicht unausgesetzt beherrscht, gesittet und »ein Vorbild sein«, wie Thomas Reed es seiner Tochter von Kindheit an vorhielt. »Höchstens ein Hausmädchen«, überlegte sie jetzt. »Von mir aus auch ein schwarzes …«
»Ich hab nie eins gesehen«, sagte Simon leise. »Einen Neger schon einmal, an den Docks. Aber nie eine Frau …«
»Du wirst sie dann aber nicht schöner finden als mich?«, fragte Nora besorgt.
Simon lächelte und musste wieder husten. »Ich werde niemals eine Frau schöner finden als dich, Nora!«, beteuerte er mit kaum hörbarer Stimme. »Egal, ob sie schwarz, weiß oder rot ist.«
Nora sah ihren Liebsten argwöhnisch an. »Ich glaube, du wirst mich küssen müssen, damit ich dir glaube!«
Trotz des Damoklesschwertes, das über ihnen hing, waren Simon und Nora in diesen Tagen glücklich. Sie teilten eine seltsame Stimmung der Unbeschwertheit, schoben den Gedanken an Tod und Trennung weg, wie sie die Welt aus ihrem winzigen Verschlag unter dem Dach aussperrten. Dabei ging es Simon jetzt immer schlechter. Er lag oft stundenlang in fiebrigem Schlaf, aber dank Noras Umarmungen, ihrer sanften Stimme und dem von Dr. Mason verschriebenen Mohnsirup begleiteten ihn schöne Träume. Mitunter verschwammen jetzt auch Fantasie und Realiät, Simon schien sie beide wirklich am Strand in der Sonne zu sehen, wenn er mit Nora in seinem schmalen Bett lag.
Wehmütig gab Nora die Hoffnung auf, er würde sie noch zu seiner Frau machen können, aber sie gab sich damit zufrieden, Herrin seiner Träume zu sein.
»Wir lieben uns im warmen Sand, und über uns steht der volle Mond. Ein so großer Mond, Simon, wie ich ihn nie zuvor gesehen habe … und er gibt so viel Licht … Ich kann dich sehen, Simon, und du kannst mich sehen. Ich … ich habe mein Kleid ausgezogen, und du …«
»Du bist wunderschön …«, flüsterte Simon. »Dein Körper leuchtet silbern im Mondlicht, und die Sterne spiegeln sich in deinen Augen. Ich küsse dich, ich liebe dich, und ein leichter Wind trocknet unseren Schweiß …«
Zehn Tage nach dem Besuch des Arztes holte die Wirklichkeit die Liebenden ein. Wieder war eine Mietzahlung fällig, wobei Mrs. Paddington sich diesmal nicht an Nora wandte, sondern Simon aufsuchte, als diese aus dem Haus war. Dahinter steckte natürlich pure Neugier – Mrs. Paddington wollte wissen, was ihre seltsamen
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