Die Insel Der Tausend Quellen
breiten Himmelbettes zusammengekauert, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf an die Knie gelegt. Die junge Frau sprach mit niemandem und antwortete nur knapp, wenn sie angesprochen wurde.
Thomas Reed musste sie nötigen, zu Simons Totenmesse aufzustehen und mit zur Kirche zu gehen. Er tat das etwas widerwillig, aber Lady MacDougal, seine alte Vertraute und Beraterin in Gesellschaftsfragen, die trotz der Jagdsaison zufällig in London weilte, riet ihm zu.
»Natürlich ist es unpassend, aber es redet doch ohnehin halb London darüber, dass Ihre Tochter mit einem verarmten Lord durchgebrannt ist. Also besser, man gibt ihn jetzt ganz offiziell als Noras verstorbenen Verlobten aus. Vielleicht lässt sich ja sogar noch etwas retten, wenn Sie glaubhaft erklären, sie hätte die letzten Wochen bei seiner Familie verbracht, um seiner Mutter bei der Pflege zu helfen.«
Thomas Reed, weniger um Noras Ruf als um ihren Seelenzustand besorgt, brummte unwillig. »Das Begräbnis wühlt sie nur wieder auf.«
Lady MacDougal schüttelte den Kopf. »Unsinn, Thomas, das hilft ihr, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie kann sich verabschieden, vielleicht wird sie noch ein paar Tage weinen, aber dann kommt sie auch drüber hinweg. Hat man denn … inzwischen … äh … schon herausbekommen, ob sie noch … hm … Jungfrau ist?«
Reed verneinte fast verärgert. Er hätte nie gewagt, das Thema anzuschneiden, obwohl es ihn natürlich brennend interessierte.
Eileen MacDougal, Lady Margarets lebensfrohe Tochter, die ihrem eigenen Skandal mit dem Stallburschen nur knapp entronnen war, kannte da weniger Hemmungen. Lady Margaret hatte sie dazu abgestellt, Nora »ein bisschen aufzuheitern«, während sie selbst mit Thomas sprach. Das gelang natürlich nicht. Nora saß leise weinend in ihrer Ecke und achtete kaum auf die Fragen, mit der die neugierige junge Frau sie bombardierte. Erst als Eileen geradeheraus danach fragte, ob Simon sie denn zur Frau gemacht habe und wie es gewesen sei, zeigte sie eine kurze und heftige Reaktion.
»Nein«, Noras Stimme klang erstickt. »Nicht einmal das haben wir gehabt …«
Nora weinte nicht mehr, als sie ihrem Vater auf den neuen, nahe der Kirche gelegenen Friedhof folgte. Sie zog auch brav das schwarze Kleid über, das ihr Hausmädchen ihr herausgelegt hatte – es musste enger gemacht werden, Nora hatte in den letzten Wochen tatsächlich an Gewicht verloren. Die Schneiderin, die das rasch erledigte, verlangte dafür einen Shilling.
»Man bekäme nur drei für das ganze Kleid auf dem Markt auf der Cheapside«, sagte Nora fast unbeteiligt, als die Haushälterin über den Wucherpreis schimpfte. »Und zwei für den Reifrock … Dabei sind sie so unpraktisch, diese Reifröcke.«
Die Bedienstete, die ihr Leben dafür gegeben hätte, wenn sie einmal in einem solchen Kleid, sorgfältig geschminkt und mit gepudertem Haar, auf einem Ball hätte tanzen dürfen, ließ dies unkommentiert.
Der Pfarrer von St. George hielt eine ergreifende Rede, und Wilson, der wie die meisten Angestellten des Kontors zum Begräbnis erschienen war, hielt Mrs. Paddington von Nora fern. Die Vermieterin hatte es sich nicht nehmen lassen, den Trauergottesdienst zu besuchen, und wollte sich nun gleich wieder mit Forderungen auf sie stürzen. Auch die Tanners waren anwesend, wobei Nora ahnte, dass ihr Vater ihnen den Verdienstausfall für diesen Tag ersetzt hatte. Beide wirkten mitfühlend, rochen aber schon am Morgen nach Gin.
Nora stand die Trauerfeier mit versteinertem Gesichtsausdruck durch. Sie weinte auch am nächsten Tag nicht mehr, sondern ging sogar aus, wie die besorgten Dienstboten ihrem Vater am Abend begeistert berichteten.
Peppers fuhr sie allerdings nicht, wie erhofft, in eine der besseren Einkaufsstraßen, um ihre Garderobe zu ergänzen, sondern zu einer Pfandleihe ins Eastend. Nora löste Simons Siegelring aus – und fühlte sich gleich besser, als sie das Metall in ihrer Hand spürte. Er passte auf keinen ihrer schmalen Finger – auch Simon hatte ihn nicht tragen können, er musste für einen weitaus feisteren Ahnen der Greenboroughs gefertigt worden sein. Nora fädelte schließlich ein Samtband hindurch und trug ihn um den Hals. Dann nahm sie ihre stille, jetzt tränenlose Trauer wieder auf. Stundenlang saß sie in der Ecke ihres Bettes und starrte scheinbar blicklos vor sich hin. Nora suchte die Insel im Süden, auf der sie Simons Seele verloren hatte. Aber sie fand keinen Weg zurück.
DIE INSEL
London,
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