Die Insel Der Tausend Quellen
nicht mehr und nicht ins Theater und nicht auf Landpartien. Wenn ich sie mit Gewalt zu einer Gesellschaft schleife, hockt sie bei den Damen und versucht, sie für ihre Wohltätigkeit zu erwärmen. Junge Männer schaut sie kaum an – dabei ist sie schön wie der junge Morgen, die Kerle würden sich um sie reißen. Und ihre Mütter auch, jede Matrone dieser Stadt würde Nora gern ihren Sohn vorstellen. Aber wenn’s überhaupt so weit kommt, sagt Nora nur ›Ich freue mich …‹ und guckt dann den ganzen Abend durch ihren Tischherrn hindurch. So wird das nie etwas mit einer Heirat. Dabei wäre es Zeit. Ich hätte gern irgendwann ein paar Enkelkinder, vielleicht einen Jungen, der das Handelshaus führen mag.«
Lady Margaret zuckte die Schultern. »Sie sollten sie einem Arzt vorstellen«, meinte sie schließlich. »Es gibt ja Mittel gegen Schwermut.«
Thomas Reed glaubte eigentlich nicht, dass Nora krank war, brachte sie aber pflichtschuldig zu Dr. Morris, der Laudanum verschrieb.
Nora fand, das Mittel röche wie der Mohnsirup, den sie damals Simon gegeben hatte, und als sie es ausprobierte, hatte sie das Gefühl, zum ersten Mal die Wirkung zu erahnen, die Gin auf Frauen wie Mrs. Tanner ausübte. Nora fühlte sich beruhigt und friedlich, aber sie wollte nicht beruhigt und friedlich sein. Sie lebte mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer um Simon. Sie suchte ihn auf den verschlungenen Wegen im St. James’ Park, spürte seinem Geist im Eastend nach und zwischen den Seiten der wenigen Bücher, die er besessen hatte und die Wilson ihr aus der Mansarde mitgebracht hatte. Darin fand sie noch am ehesten Trost. Sie las die Worte, die Simon gelesen hatte, und träumte seine Träume, denn natürlich handelten die Bücher von fernen Inseln und ihren Entdeckern. Stets trug sie Simons Ring an dem Samtband auf der Brust – auch das war eine kleine Hilfe, sich ihm nahezufühlen. Aber wirklich eins waren ihre Seelen nur auf ihrer Insel gewesen, in ihrem Fantasieland, das sie allein nicht heraufzubeschwören vermochte. Laudanum half dabei nicht. Nora wartete ein paar Tage, dann schüttete sie es weg.
Und dann, eines Tages, lud ihr Vater Elias Fortnam zu einer seiner Abendgesellschaften.
KAPITEL 2
N ora überprüfte lustlos die Tischdekoration im großen Speisezimmer. Die Hausmädchen hatten für sieben Personen gedeckt, Thomas Reed würde der Tafel vorsitzen, und zudem wurden zwei Ehepaare und ein Mr. Fortnam erwartet – ein Geschäftsfreund ihres Vaters, von dem Nora noch nie gehört hatte. Nun, sie würde an diesem Abend ausgiebig mit ihm plaudern müssen, er war zweifellos als ihr Tischherr vorgesehen. Nora seufzte und rückte einen der Teller aus Meißener Porzellan gerade – das Service hatte ein Vermögen gekostet, das man in der Armenküche weitaus sinnvoller hätte einsetzen können … Und ein neues Kleid hatte sie auch kaufen müssen, ihr Vater bestand darauf, dass sie sich fraulicher kleidete. Nora war immer noch mädchenhaft schlank, was, wie die Köchin immer wieder klagte, daran lag, dass sie zu wenig aß. Jedenfalls fehlte es ihr zumindest nach Meinung von Eileen und Lady MacDougal an weiblichen Formen.
Die beiden wurden nicht müde, Nora zu bedrängen, endlich mehr aus sich zu machen. Dabei war es Nora egal, wie sie aussah. Sie trug lieber praktische Kleidung als aufwändige Roben – obwohl ihr neues weinrotes Brokatkleid zweifellos hübsch aussah. Die Schneiderin hatte darauf bestanden, ihre kleinen Brüste durch einen voluminösen Spitzenbesatz am Ausschnitt zu betonen und die Robe mit goldenen Schleifen und Volants zu verzieren statt mit schwarzen Applikationen, wie Nora es sich gewünscht hätte.
»Sie sind so wunderschön, Sie können nicht herumlaufen wie eine Krähe!«, argumentierte die Frau, und Nora fügte sich schließlich.
Wahrscheinlich hatte ihr Vater die Schneiderin instruiert, von selbst hätte sie wohl kaum gewagt, sich so drastisch auszudrücken.
Nora warf einen kurzen Blick auf das Feuer im Kamin, um das Fänge aufgestellt waren, damit keine Glutpartikel auf die kostbaren Seidenteppiche oder die Marmorstatuen springen konnten, die zu beiden Seiten der Feuerstelle drapiert waren. Nora vermutete, dass es irgendwelche römischen Gottheiten waren. Ihrem Vater war das ziemlich gleich – er ließ sich beim Kauf der Kunstgegenstände für sein Haus von Architekten beraten und betrachtete diese lediglich als finanzielle Investition.
Jedenfalls war alles bereit, und sie musste sich umziehen –
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