Die Insel Der Tausend Quellen
und kleidete sich gediegen. Sie bevorzugte gedeckte Farben, vermied möglichst Rüschen und Bänder, und wenn sie plauderte, so ging es nicht um den nächsten Ball oder die beste Schneiderin, sondern meist um ihre wohltätigen Aktivitäten. Für eine junge Frau ihres Alters war das vielleicht etwas seltsam, aber es sprach auch für eine ungewöhnliche Reife, dass sich ein so junges Ding bereits mildtätig engagierte.
Tatsächlich war das Thema Armenspeisung und medizinische Versorgung im Eastend das Einzige, bei dem Nora ihren alten Schwung wiederfand und nun auch die neuen Bekannten ihren Liebreiz und ihren Eifer entdecken ließ. Sie warb mit Charme und Geschick um Spenden und ging selbst in die verkommensten Stadtteile, um die Verteilung zu überwachen. Den Anstoß dazu hatte eine der Abendveranstaltungen gegeben, die Thomas Reed so verzweifelt eifrig organisierte, kurz nachdem Nora zu ihm zurückgekehrt war. Eine der geladenen Matronen, Mrs. Anne Wendrington, hatte von einem Waisenhaus erzählt, das sie unterstützte.
»Dabei sind die armen Würmer gar nicht unbedingt Waisen, die Eltern kümmern sich bloß nicht um sie, die haben sich vollständig dem Gin ergeben. Das ist erschreckend, dieser Hang zur Trunksucht, der Schnaps lässt diese Leute alles vergessen!« Mrs. Wendrington nippte selbstgefällig an ihrem Weinglas.
Zur Verwunderung der anderen Gäste und zum Schrecken ihres Vaters hatte daraufhin Nora die Stimme erhoben.
»Das liegt daran, dass Gin in diesen Gegenden billiger ist als Wasser. Und oft auch gesünder, oder wollten Sie die Jauche trinken, die man aus der Themse schöpft?«
Mrs. Wendrington runzelte die Stirn. »Billiger als Wasser? Wie kann das sein? Aber wir hatten schon überlegt, ob wir Teeund Suppenküchen einrichten … für Kinder und Eltern, mit geistlicher Betreuung. Der Reverend von St. George …«
Nora lachte höhnisch auf. »Da schicken Sie besser einen Arzt, die Bibel hilft den Leuten nicht, wenn ihre Kinder sich die Lunge aus dem Leib husten. Verhungern tun sie eher selten. Ein paar Knochen, die man zur Suppe auskocht, und ein bisschen Kohl, und wenn’s der Abfall aus den Metzgereien oder vom Marktstand ist – das ist alles billig. Und wenn die Mutter sich dem Gin ergibt: Die kleinen Mädchen werden rasch erwachsen, da kocht auch mal die Schwester für die Jüngsten. Schwieriger wird es schon mit dem Holz oder der Kohle, um ein Feuer zu entfachen. Wenn Sie da ansetzen … und wenn Sie sauberes Wasser verteilen … Eigentlich müsste man das ganze Eastend abreißen und die Häuser neu bauen!«, brach es schließlich aus Nora heraus.
»Nora!«, tadelte Thomas Reed.
Mrs. Wendrington schluckte, aber es sprach für sie, dass sie offensichtlich nachdachte. »Wir sollten das unerquickliche Thema hier und jetzt beenden«, meinte sie schließlich. »Aber wir müssen uns einmal unterhalten, Miss Reed, eine so scharfe Beobachterin und eine junge Dame mit einem solchen Elan könnten wir gut in unserem Wohltätigkeitsverein brauchen!«
Kurz danach lud sie Nora wirklich ein, und seitdem gab die junge Frau all das Geld, das sie früher in Kleider und Vergnügungen gesteckt hatte, für die Verbesserung der Zustände im Eastend aus. Nora richtete Armenküchen ein und engagierte vor allem den rührigen Dr. Mason zu regelmäßigen Sprechstunden auch für mittellose Patienten. Natürlich war das alles ein Tropfen auf dem heißen Stein – nur sehr wenige Frauen aus der Kaufmannschaft oder gar aus dem Adel wagten sich in die verrufenen Stadtviertel und hatten auch nur eine Vorstellung davon, wie die Armen lebten. Allzu viele Spenden kamen also nicht zusammen. Aber Nora riss die Arbeit wenigstens aus ihrer Lethargie.
Thomas Reed wusste nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte. »Sie wird eine alte Jungfer!«, klagte er Lady Margaret, die ihre Eileen gerade glücklich verheiratet hatte, sein Leid. »Wenn sie aus dem Haus geht, dann nur mit diesen Matronen ins Eastend, und hinterher riecht sie nach den Einreibungen, die dieser Arzt dort verschreibt, sie scheint ihm persönlich zur Hand zu gehen. Oder sie sprengt allein mit dem Pferd durch den Park, wobei der arme Knecht kaum mitkommt. Ich such jetzt einen neuen, der nicht so gut aussieht, aber dafür besser reitet! Und manchmal kommt sie verweint zurück – obwohl der Bursche schwört, sie ginge nicht auf den Friedhof. Das macht sie zum Glück kaum, nicht auszudenken, wenn sie auch noch auf seinem Grab hockte … Aber tanzen mag sie
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