Die Insel Der Tausend Quellen
Wellen davontragen. Der Mohnsirup, den Nora ihm am Abend noch eingeflößt hatte, ersparte ihm jeden Todeskampf.
Als Nora erwachte, hielt sie seinen noch warmen Körper im Arm, aber sie hörte kein Keuchen und mühsames Atmen mehr. Simons Gesicht war friedlich und schön, gelöst und endlich von Schmerzen und Sorgen befreit. Nora wusste, dass es zu Ende war, aber sie spürte noch keinen Schmerz und keine Trauer. Seine Augen waren geschlossen, und sie küsste seine Lider. Sie konnte, wollte ihn nicht loslassen. Sie würde ihn noch ein wenig halten, nur kurze Zeit. Ein letztes Mal seinen Körper spüren, schon um niemals das Gefühl zu vergessen, wie es war, ihren Liebsten zu liebkosen.
Aber letztlich war dann doch der Zauber gebrochen. Simons Tod hatte auch Noras Seele aus dem Kokon gelöst, den sie umeinander gesponnen hatten. Die Insel ihrer Träume war verblasst, Nora nahm wieder das triste Zimmer wahr, in das fahles Morgenlicht fiel. Und zum ersten Mal seit zwei Tagen hörte sie
auf das, was außerhalb der Mansarde geschah – das vertraute Keifen Mrs. Paddingtons, die offensichtlich einen Besucher
begrüßte.
»Noch so ’n feiner Herr – bestimmt für Lord und Lady, ja?« Das übliche, bösartige Kichern tönte zu Nora hinauf. »Aber ’n bisschen früh für ’n Höflichkeitsbesuch, nicht? Geht’s um Geld, Sir? Gerichtsvollzieher? Aber da ist nichts zu holen, sag ich Ihnen gleich. Und ich steh auch an erster Stelle, die Miete war vor bald drei Tagen fällig. Zwei Shilling, Mister, die …«
»Die sind Ihr Loch da oben gar nicht wert!«
Nora fuhr auf. Diese freche Stimme kannte sie. Bobby, der kleine Bürobote. Also wollten die Leute wirklich zu ihr. Schon hörte man jemanden die Treppe heraufkommen, oder waren es mehrere Personen? Sanft bettete Nora Simons Körper in die Kissen und warf dann rasch einen Schal über das Hemd, in dem sie geschlafen hatte. Sie überlegte kurz, ein Laken über das Gesicht ihres Liebsten zu ziehen, aber sie brachte es nicht über sich, es zu verdecken.
An der Tür klopfte es, und Nora dachte einen Herzschlag lang daran, einfach nicht zu öffnen. Sie brauchte ein wenig Zeit – sie hatte noch nicht die Kraft, sich der Außenwelt zu stellen.
Aber Bobby hatte nie gewartet, bis sie auf sein Klopfen reagierte. Und Thomas Reed tat das schon gar nicht. Der Kaufmann stieß kraftvoll die Tür auf – und blinzelte entsetzt in den halbdunklen Verschlag unter dem Dach, in den seine Tochter aus seinem herrschaftlichen Haus in Mayfair geflohen war.
Thomas Reed registrierte die schiefen Wände und das baufällige Mobiliar. Aber er sah auch auf den ersten Blick, dass der Boden sauber gefegt, wenn nicht gar gescheuert war, dass im Kamin ein Feuer brannte und wie ordentlich die wenigen Töpfe und Pfannen, die irdenen Tassen und Teller auf einem ungeschickt zusammengezimmerten Regal aufgereiht standen. Er sah sorgsam zusammengelegte Kleidung auf dem wackeligen Stuhl – und erkannte die Verzweiflung und Erschöpfung im Blick seiner Tochter, die sich beim Öffnen der Tür wie schützend vor das Bett ihres Geliebten schob. Er war zornig gewesen, als er von ihrem Ungehorsam gehört hatte, wütend, dass er gezwungen war, seine Reise deswegen abzubrechen, und besorgt ob der möglichen Konsequenzen ihrer jugendlichen Unvernunft. Aber dies hier war kein verwöhntes Kind, das weggelaufen war, um Heiraten zu spielen. Die junge Frau, die hier mit gelöstem, wirrem Haar, einen fadenscheinigen Schal über ein billiges Nachthemd geschlungen, vor ihm stand, war deutlich gereift. Und was sie aus diesem Loch von einer Mansarde gemacht hatte … Widerwillig musste Reed ihr Respekt zollen.
Aber was war mit Greenborough? Der Kaufmann erahnte eine schmale Gestalt unter den Decken, aber der Mann konnte den Tumult im Hausflur doch nicht verschlafen haben?
»Nora …«
Thomas Reed hatte sich die Wiederbegegnung mit seiner Tochter oft genug ausgemalt, aber er hätte nie erwartet, dass er sich dabei so hilflos fühlen würde. Unsicher breitete er die Arme aus.
Nora starrte ihren Vater zunächst an, als sähe sie einen Geist. Aber dann brachen sich bei seinem Anblick, dem Klang seiner Stimme und seiner hilflos zärtlichen Geste all ihre Gefühle Bahn.
»Papa!«
Nora stürzte sich in seine Arme. Sie schluchzte haltlos, während sich Reed nun über ihre Schulter hinweg Sicht auf das Bett nahe der Feuerstelle bot. Bobby, der inzwischen hinter ihm eingetreten war und den Raum gleich respektlos inspizierte,
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