Die Insel Der Tausend Quellen
schuldbewusst errötete, als Reed ihn ansah.
»Du da!« Reed bemerkte seine Reaktion sofort. »Robert! Hast du meine Tochter ins Eastend geführt? Sprich nur frei heraus, es ist mir klar, dass du ihr nichts abschlagen konntest in deiner Stellung. Und verboten hat’s dir ja auch keiner von all den vorausschauenden Herren in dieser Runde, nicht?«
Bobby schüttelte den Kopf und konnte schon wieder verhalten grinsen. »Verboten hat’s mir keiner«, bestätigte er – und legte gleich darauf ein umfassendes Geständnis ab. »Ich bin deshalb später zu den Docks gegangen, um die Briefe abzuliefern«, gab er mit unsicherem Blick auf Simpson zu, der ihn böse anfunkelte. »Aber Eastend, die Gegend an der Themse … Da konnt ich so ’ne junge Lady doch nicht allein hingehen lassen. Und ich hab ein Auge auf sie gehabt, Sir, bestimmt. Auch später …«
»Du stehst in Kontakt mit ihr?«, fragte Reed. Seine Stimme schwankte zwischen Wut und Erleichterung.
»In gewisser Weise«, murmelte Bobby. »Jedenfalls … es geht ihr gut …«
Thomas Reed rieb sich die Schläfe. »Na, dann wollen wir uns davon mal überzeugen. Sie gehen wieder an die Arbeit, meine Herren. Und du kommst mit, Robert, du zeigst meinem Kutscher den Weg, wenn du dich im Eastend schon so gut auskennst.«
Nora und Simon hatten die Welt aus ihrer Mansarde verbannt, nachdem Dr. Mason gegangen war. Simon lag im Sterben, aber Nora verdrängte den Gedanken an den Tod durch die Kraft ihres Willens und ihrer Träume. Ihre Geschichten entführten beide endgültig an den Strand ihrer Karibischen Insel. Mit leiser Stimme beschwor Nora eine Hängematte, die sie aus Palmblättern flocht. Sie lagen darin unter Tropenbäumen, gewiegt vom Wind, gestreichelt von den Sonnenstrahlen, die zwischen den Blättern durchfanden und Muster aus Licht und Schatten auf ihre nackte Haut malten.
Nora stand nur noch auf, um das Feuer im Ofen nicht ausgehen zu lassen. Unablässig hielt sie Simon im Arm, spann an ihren Träumen und summte Liebeslieder, zu denen sie ihn wiegte. Simon schlief die meiste Zeit, aber wenn sie ihn streichelte, griff er nach ihrer Hand und küsste sie. Nora zählte weder Stunden noch Tage, sie horchte nicht mehr ängstlich auf seine Atemzüge und fuhr nicht mehr zusammen, wenn er hustete. Nichts war mehr wichtig, als bei ihm zu sein, es gab nur noch sie beide, ihre Insel, das Brechen der Wellen am Strand.
Aber dann, in der Nacht zum Montag, als Nora eben die letzten Kerzen löschen wollte, zerrte Simon sie doch noch einmal in die Wirklichkeit.
»Was wirst du tun, wenn es vorbei ist?«, flüsterte er. »Wenn ich …. wenn ich … Wirst du zurück nach Mayfair gehen? Glaubst du, dein Vater verzeiht dir … und mir?«
»Es wird nie vorbei sein«, antwortete Nora entschlossen und küsste die Falte auf seiner Stirn, die Anstrengung und Sorge gezeichnet hatten. »Du wirst immer bei mir sein. Es wird gehen … es muss gehen … Ich liebe dich so sehr.«
»Du musst mich vergessen«, sagte Simon. In seinen Augen stand aller Schmerz der Welt, aber er presste die Worte heraus. »Ich sterbe, Nora. Aber du lebst, und du bist noch so jung. Du wirst einen anderen lieben.«
Nora schüttelte den Kopf. »Niemals. Wir werden immer zusammen sein … Ich werde dich auf dieser Welt halten, Liebster … Ich lass dich nicht gehen … Hab keine Angst.«
»Ich habe keine Angst …«, flüsterte Simon. »Und wenn ich könnte … wenn ich nur könnte … ich würde dich niemals verlassen, Nora, ich würde dich immer lieben.«
Sie strich über sein Gesicht, mit ihren Fingern, dann mit ihren Lippen, als könnte sie es sich damit für immer einprägen.
»Du wirst mich nicht verlassen«, sagte sie zärtlich. »Denkst du noch an die Geschichte mit den Geistern? Die Neger auf den Inseln nennen sie Loas … oder Duppies …«
Simon lächelte schwach. »Sie bilden … sich aus Rauch, der aus den Gräbern aufsteigt …« Die Geschichte hatte in einem seiner Bücher gestanden, und sie hatten sich in glücklichen Tagen wohlig miteinander gegruselt, als er sie Nora erzählte.
»Da hast du’s!«, sagte Nora. »Du wirst zurückkommen. Wir können immer zusammen sein, in unseren Träumen, auf unserer Insel …«
Simon drückte ihre Hand. »So bring mich dorthin, Nora«, hauchte er. »Bring mich noch einmal hin …«
Nora schlief, als Simon schließlich seinen letzten Atemzug tat, und träumte von ihrem Paradies am Strand. Sie hielt ihren Liebsten im Arm, und Simon ließ sich von den
Weitere Kostenlose Bücher