Die Insel Der Tausend Quellen
schüttelte Nora sie ab und stand auf. »Also schön, dann komm und zeig mir, was los ist, wenn du es denn schon nicht so erklären kannst, dass ich es auch verstehe. Wo müssen wir denn hin?«
»Na, zu den Hütten natürlich!« Máanu ging offensichtlich davon aus, dass Nora genau verstand, was sie wollte. »Vor der Küche, da … da tun sie’s doch immer.«
Die »Küche« im Sklavenquartier war ein offener Schuppen. Im Allgemeinen wurde dort Eintopf über offenem Feuer gegart und dann an die Arbeiter verteilt. Sie konnten sich ihr Essen mit in die Hütten nehmen oder auch gleich vor der Küche verspeisen. Ein offener Platz, von Palmen und Mahagonigewächsen beschattet, lud dazu ein, sich zu setzen und mit anderen zu plaudern. Hier fanden an den Sonntagen auch die Gottesdienste statt.
Nora folgte also ihrer Dienerin zunächst durch die Küche des Herrenhauses, wo ihnen Adwea besorgt und kopfschüttelnd nachsah. Auch die Mienen des Küchenpersonals waren ernst, wenngleich sie nicht Máanus Panik widerspiegelten. Es musste also um etwas Persönliches gehen, das die junge Frau betraf.
Máanu rannte jetzt beinahe, und Nora musste sich bemühen mitzukommen. Erst durch ein lichtes Wäldchen, das den Blick vom Haus auf die Hütten verdeckte, und dann zwischen den Sklavenquartieren hindurch. Schon von weitem sah Nora, dass der Versammlungsraum vor der Küche mit Arbeitern gefüllt war. Allerdings saßen sie nicht entspannt beisammen wie zum Essen. Sie standen da und schwiegen. Das einzige Geräusch war das Niedersausen einer Peitsche.
»Dreiundzwanzig!«, vermeldete eine Stimme, der man Anstrengung anhörte. Danach ein weiteres, klatschendes Geräusch, ein schwaches ächzen.
»Vierundzwanzig!«
Nora und Máanu drängten sich durch die Reihen der Sklaven.
»Platz! Lasst uns durch! Lasst die Missis durch!«
Máanu schob die Männer zur Seite und vergaß dabei sogar, zurück zum Pidgin-Englisch zu wechseln.
»Dreißig!«
Als Nora endlich freie Sicht auf das Podium in der Mitte des Platzes hatte, erschrak sie. Gebunden an den Baum, der dem Reverend während des Gottesdienstes Schatten spendete, hing Akwasi. Man hatte ihm die Hände gefesselt und gerade so an einen Zweig gebunden, dass seine Füße eben noch Halt am Boden fanden. Zumindest hatte er am Anfang noch stehen können, jetzt fand er nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten.
»Einunddreißig!«
Der Aufseher Truman hob ein weiteres Mal die Peitsche. Seine Stimme flatterte, und sein nackter Oberkörper triefte vor Schweiß von der Anstrengung.
An Akwasis fast nacktem Körper floss Blut herunter. Sein Rücken war mit Striemen bedeckt, es gab kaum noch eine heile Stelle, und Nora verstand, was Máanu meinte. Noch vierzig weitere Hiebe, und die Knochen seiner Wirbelsäule würden freiliegen. Der Rücken wäre unheilbar zerfetzt, der Mann würde an Wundbrand sterben, wenn er nicht gleich unter den Schlägen sein Leben aushauchte.
Akwasi schrie zum ersten Mal auf, als ihn der nächste Schlag traf. Bisher hatte er sich wohl eisern beherrscht.
Nora rannte aufs Podium.
»Hören Sie augenblicklich auf !«
Sie schrie den Aufseher an, der daraufhin tatsächlich verwundert die Peitsche sinken ließ.
»Oh … Mrs. Fortnam … Was machen Sie denn hier? Das ist … Also, ich möchte nicht respektlos sein, aber dies ist kein Ort für eine Lady.«
»Aber für einen Gentleman, ja?«, fragte Nora und sah voller Abscheu auf die blutige Peitsche in der Hand des noch recht jungen Mannes. Truman war ihr bisher nicht wie ein Grobian erschienen. Wenn sie ihn auf Ausritten oder gemeinsam mit Elias getroffen hatte, war er immer höflich und freundlich gewesen. »Die Frage ist, was Sie hier machen! Hat mein Gatte Ihnen erlaubt, seine Männer totzuschlagen?«
Truman lächelte. »Nur, sie zu züchtigen. Natürlich muss dies hier für eine junge Lady sehr martialisch aussehen. Aber ich versichere Ihnen, dass ich meine Befugnisse keinesfalls überschreite. Der Kerl hier ist ein Unruhestifter, ich muss ein Exempel statuieren.«
»Was hat er denn getan, um das zu verdienen?«, erkundigte sich Nora.
Akwasi, ein sehr großer, kräftiger junger Mann, regte sich schwach in seinen Fesseln.
Truman lachte. »Oh, die Liste ist lang, Mylady. Aber vor allem Anstachelung zur Meuterei, zur Arbeitsverweigerung, zum Aufstand, zur Lüge und Drückebergerei. Er hat einen schlechten Einfluss auf die anderen, Mrs. Fortnam. Und ich führe ihnen hiermit vor Augen, wohin das führt. Das ist mein
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