Die Insel der verlorenen Kinder
spielt?»
«Ja», antwortete sie. «Natürlich. Es war ein weißes Hasenkostüm. Eine Verkleidung. Es war ein Mann, der in einer Verkleidung steckte.»
«Woher wissen Sie dann, dass es ein Mann war, Miss Farr? Wenn er in einem Kostüm steckte?»
«Ich weiß nicht, das denke ich einfach. Es kam mir … Eskam mir einfach so vor, als ob das ein Mann sein müsste. Und er war groß.»
«Eins achtzig», gab der Beamte zurück, der in seinen eigenen Notizen nachlas.
Tatsächlich aber hatte Rhonda in dem Moment, als der Hase um Viertel vor drei an jenem Montagnachmittag auf dem Parkplatz vor
Pat’s Mini Mart
aus dem Wagen stieg, überhaupt nicht an einen verkleideten Menschen gedacht. Denn er hoppelte wie ein Hase und bewegte den großen weißen Kopf mit hasenhaft nervösen Bewegungen hin und her. Peter Hase drehte sich zu Rhonda um und schien sie einen Moment lang mit seinen blinden Plastikaugen anzustarren. Es kam ihr vor, als könnte sie sogar die Hasennase zucken sehen, als er ihr ganz leicht zunickte.
Rhonda beobachtete, wie er mit seiner großen weißen, flauschigen Pfote an Ernies Fenster klopfte. Das kleine Mädchen lächelte zu ihm auf und öffnete die Tür. Er beugte sich über sie, und Ernie kraulte ihn liebevoll hinter den Ohren und machte ihren Sicherheitsgurt auf.
Der Hase streckte die Pfote aus, und Ernie ergriff sie mit ihrer eigenen kleinen Hand, stieg aus dem Wagen ihrer Mutter, folgte dem Hasen zum goldenen VW und setzte sich ohne das geringste Widerstreben und ohne jedes Zögern auf den Beifahrersitz. Das kleine Mädchen lächelte die ganze Zeit.
Der goldene Volkswagen hatte eine Beule am hinteren Stoßdämpfer.
Besser konnte Rhonda den Ermittlungsbeamten den Wagen leider nicht beschreiben. Sie erklärte ihnen, dass sieja gedacht hatte, es sei Laura Lees Wagen gewesen, bevor sich herausstellte, dass das ein Irrtum war. Deshalb sei ihr gar nicht der Gedanke gekommen, auf das Nummernschild zu achten.
«Aber es war ein Nummernschild von Vermont? Kein ausländisches Schild, wie zum Beispiel Quebec oder so?», fragte einer der Ermittlungsbeamten.
«Doch, Vermont», antwortete Rhonda und war sehr böse auf sich, weil ihr nicht einmal der Gedanke gekommen war, sich das Nummernschild anzuschauen und zu merken. «Denke ich jedenfalls.»
«Okay. Hatte der Wagen sonst noch irgendwelche besonderen Kennzeichen? Vielleicht eine rostige Stelle? Oder lag vielleicht etwas auf dem Rücksitz?»
«Auf den Rücksitz habe ich nicht geschaut. Und nein, es war einfach nur ein golden lackierter Käfer. Es war nichts Ungewöhnliches daran, vom Fahrer einmal abgesehen.»
«Der Hase», merkte der Polizist mit einer Spur von Skepsis in der Stimme an. Er war der kleinere der beiden Cops, und Rhonda kam er kaum älter als neunzehn vor. Der Junge war gerade einmal erwachsen. Die auf seinen Schläfen sprießenden Pickel wirkten schmerzhaft und sahen im Schatten seines breitkrempigen Hutes fast wie Verbrennungen aus.
«Ja, der
Hase
.» Diesmal zitterte Rhondas Stimme ein wenig. Das waren die Nerven und der Frust, dass sie immer wieder erklären musste, wie alles gekommen war, und dabei wusste, dass Trudy vollkommen recht hatte – Rhonda war schuld, dass Ernie jetzt weg war. Sie hatte nicht eingegriffen. Sie hatte der Entführung des kleinen Mädchens in dem roten Hängekleidchen so gelassen zugesehen, wieman die Lebensvorgänge unter der Linse eines Mikroskops betrachtet: eine passive Beobachterin voller Hochachtung vor dem, was sich vor den eigenen Augen abspielt.
Dabei war sie doch gar nicht so. Sie war ein aktiver Mensch, jemand, der Listen erstellte und sie abarbeitete. Sie war methodisch und betrachtete die Dinge mit wachem Verstand und einem wissenschaftlichen Blick, sodass sie in jeder Lebenslage wusste, was der nächste folgerichtige Schritt war. Doch aus irgendeinem Grund war sie an jenem Nachmittag einfach vollkommen überrumpelt sitzen geblieben und hatte nur gegafft. Wie hypnotisiert von einem weißen Hasen.
Der andere Ermittler befand sich mit Trudy auf der anderen Seite des Ladens. Jim hatte den Klappstuhl mit dem zerrissenen Rückenpolster hinter der Theke hervorgeholt und neben das Süßigkeitenregal mit den Schokoriegeln und Lakritztüten gestellt. Er und der Polizist hatten die fast hysterische Trudy zum Stuhl geführt und taten ihr Bestes, sie zu beruhigen. Denn gerade zuvor, als alle Beteiligten endlich begriffen hatten, dass Rhonda die Entführung beobachtet hatte, ohne etwas dagegen zu
Weitere Kostenlose Bücher