Die Insel der verlorenen Kinder
Zeit.»
«Nein, ich habe etwas, das nicht warten kann.»
Peter schnaufte verärgert.
«Morgen früh kommt ein Immobilienmakler und schaut sich das Haus meiner Mutter an, und bis dahin hab ich noch alle Hände voll zu tun. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Das, was du mir zu sagen hast, muss bis morgen warten. Ich ruf dich dann an.»
«Ich könnte dich im Haus deiner Mutter treffen», sagte Rhonda.
«Nein. Ich ruf dich morgen an.» Noch während er dassagte, entfernte sich der Hörer von seinem Mund – er war dabei aufzulegen. Seine Stimme wurde immer schwächer; Rhonda war, als empfinge sie einen Radiosender vom anderen Ende der Welt, von einem Ort, von dem sie vielleicht schon gehört hatte, an dem sie aber noch nie gewesen war.
Rhonda fuhr in die Zufahrt von Aggies Haus und hielt hinter Peters Toyota Pick-up, der vor dem kleinen Fahrzeugschuppen stand, den Daniel früher als Werkstatt genutzt hatte. Sie bemerkte, dass die Schuppentür mit einem Vorhängeschloss zugesperrt und jedes Fenster mit Brettern vernagelt war. Sie blickte zum Dach auf, dessen Schindeln inzwischen lose und moosbewachsen waren, und dachte an den Tag zurück, an dem Peter um ein Haar hinuntergesprungen wäre, um zu beweisen, dass man mit den Flügeln seines Vaters richtig fliegen konnte. Sie dachte an die Sargreihen und fragte sich, ob die noch immer dort drinnen standen – sie konnte sich nicht erinnern, dass Aggie sie hätte fortschaffen lassen. Was der Immobilienmakler wohl mit denen anfangen würde?
Rhonda ließ die Erinnerung Erinnerung sein und ging die Treppe zur Vorderveranda des alten Hauses hinauf. Deren Bretterboden bog sich unter ihrem Gewicht. Farbe blätterte von den Wänden. In allen Ecken und Winkeln hingen Spinnweben. Rechts an der Tür war eine riesige Radnetzspinne gerade auf dem Weg zum Zentrum ihres Netzes, in dem sich eine Fliege verfangen hatte.
Rhonda klopfte an. Keine Antwort. Sie öffnete die Tür und trat ein.
Wie viele Male war sie lachend durch diese Tür hinter Peter und Lizzy hergerannt, einen Rucksack mit Barbiepuppen, Schlafsachen oder Kostümen für ihr jeweils aktuelles Theaterstück auf dem Rücken.
Sie stand nun in der Eingangsdiele, direkt vor dem Dielenschrank. Einer Laune folgend, machte sie ihn auf. Dort hingen ein paar mottenzerfressene Mäntel von Aggie. Daniels rot-schwarz karierte Jagdjacke. Nach all den Jahren hing seine Jacke noch immer da und wartete auf ihn. Daneben die ebenso karierte Mütze, die Peter damals bei der Eiersuche getragen hatte.
Wo ist Lizzy
?, hatte Aggie gefragt.
Noch immer mit dem Hasen im Wald.
Rhonda machte die Schranktür zu.
«Peter?», rief sie. Sie hörte oben etwas krachen. Schritte. Ein Schleifen.
Irgendetwas kam ihr komisch vor. Plötzlich tat es ihr leid, dass sie Warren nicht mitgenommen hatte. Aber bestimmt war es einfach nur das alte Haus, das sie nervös machte.
«Peter?», rief sie wieder, diesmal ein bisschen leiser. Sie ging ins Wohnzimmer. Dieselbe karierte Couch und der dazu passende Sessel. Ein Fernseher unter einer Staubschicht. An der Wand über dem Kamin Elvis auf Samt, ein Bild, auf das Daniel schrecklich stolz gewesen war. Sie und Lizzy hatten manchmal ein Spiel namens
Elvis sieht dich
gespielt, in dem sie versuchten, ein Versteck vor Elvis’ alles sehenden Augen zu finden, und an dessen Ende sie sich immer hysterisch lachend durch den Raum gejagt hatten. Letztlich wusste Elvis immer, wo sie waren.
Wo ist er jetzt?,
hätte Rhonda gerne das staubige Flohmarktobjektgefragt. Und die kleine Ernie? Ob Elvis’ alles sehender Blick auch sie entdecken könnte? Ob er bis zur Haseninsel sehen konnte?
Wieder wurde oben etwas geschleift, diesmal unmittelbar über Rhonda in Lizzys altem Zimmer.
Langsam und leise ging sie die Treppe hinauf. Irgendwie wusste sie noch genau, wo die quietschenden Stufen waren, und vermied sie sorgfältig. Oben angekommen, ging sie durch den holzgetäfelten Flur, vorbei an einer Zusammenstellung gerahmter Atelierfotos und Schulfotos von Lizzy und Peter. Sie kam an Daniels und Aggies Zimmer vorbei. Die Tür stand offen, und als sie hineinblickte, sah sie einen Kleiderhaufen auf dem Bett. Auf dem Boden standen leere Kartons.
Nebenan war Lizzys altes Zimmer. Die Tür stand offen. Rhonda presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und glitt seitlich daran entlang wie ein Polizist im Fernsehen, als würde sie im nächsten Moment plötzlich zur Tür hechten, ihre Waffe ziehen und «Hände hoch!» brüllen. Aber das
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