Die Insel der verlorenen Kinder
aufgegeben. Das erfüllte Rhonda mit Hoffnung. Sie lag da, horchte auf Lizzys gespieltes Schnarchen und fragte sich, ob sie ihre alte Lizzy nach dem Abschluss des Stücks wohl zurückbekommen würde. Die Schlafzimmertür öffnete sich quietschend und wurde wieder geschlossen. Rhonda drehte sich um. Da war keiner. Sie schloss die Augen, schlief ein und träumte von einer Lizzy, die so groß war, dass sie mit dem Kopf gegen die Decke stieß.
Als sie einmal aufwachte, stellte sie fest, dass Lizzy neben sie ins Bett gekrabbelt war und den Haken neben Rhondas Kopf aufs Kissen gelegt hatte, sodass er das Erste war, was Rhonda sah, als sie die Augen aufschlug. Als Nächstes bemerkte sie den Gestank, den Lizzy verströmte: eine Mischung aus Körpergeruch, getrocknetem Urin und einem so fauligen Atem, wie Rhonda ihn bisher nur bei einem Hund gerochen hatte.
«Ich habe ein Geheimnis», flüsterte Lizzy, und ihr widerlicher Atem strich heiß über Rhondas Gesicht. «Willst du es hören?»
Rhonda schloss die Augen und drehte sich mit dem Gesicht nach unten, sodass das Kopfkissen sie angenehm umhüllte. Sie stellte sich schlafend und wartete ab, ob Lizzy ihr das Geheimnis trotzdem erzählen würde, hörte aber nichts mehr. Rhondas Wange war gegen Lizzys Haken gepresst, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie dort ein rotes Mal wie eine Narbe.
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17. Juni 2006
Als Rhonda aufwachte, legte sie sich eine Decke über. Sie betrachtete Warren im Schlaf und war in Versuchung, ihn aufzuwecken und ihm von ihrem Traum über den Kaninchenbau zu erzählen.
Stattdessen schlüpfte sie in ihren Morgenmantel, schlich sich aus dem Schlafzimmer und machte eine Kanne Kaffee. Dann setzte sie sich mit der ersten Tasse aufs Sofa. Sie nahm die Fernbedienung und drückte die STAR T-Taste . Da war wieder Peter im Kampf mit seinem Schatten, kurz bevor er Wendy aus ihrem unschuldigen Schlaf weckte und nach Nimmerland brachte.
«He», sagte Warren, der sich über die Sofalehne beugte und sie auf den Kopf küsste. «Ich rieche Kaffee.»
«Ich dachte, den trinkst du nicht.»
Warren lachte. «Ich trinke ihn zu besonderen Anlässen.»
«Also, dann fühle ich mich geehrt. In der Küche steht eine ganze Kanne. Milch ist im Kühlschrank. Bedien dich.» Sie sah ihm nach, wie er in seinen Boxershorts in die Küche schlenderte, als fühlte er sich bei ihr vollkommen zu Hause.
Da könnte ich mich glatt dran gewöhnen,
dachte sie, mahnte sich aber gleichzeitig zur Ruhe. Wer wusste schon, wohin das Ganze führte.
«Was schaust du da?»
«Ein Video, das damals jemand von unserer Abschlussvorstellung von
Peter Pan
aufgenommen hat. Ich glaube, es war der Vater des Mädchens, das die kleine Fee Glöckchen gespielt hat.»
«Unmöglich», sagte Warren und setzte sich zu ihr aufs Sofa. «Spul mal zurück, ich möchte alles von Anfang an sehen.»
Er kuschelte sich an sie, und sie zeigte ihm die Schauspieler, die eine Hauptrolle hatten, und wies ihn auf die besten Szenen und die Feinheiten der Kostüme hin.
Dann folgten noch mehrere Minuten im Anschluss an das Stück: der Zug der Schauspieler und Zuschauer über den schmalen Pfad durch den Wald zu Rhonda nach Hause und dann Aufnahmen der Party hinten im mit Lichtgirlanden und Lampions dekorierten Garten. Die Filmkamera schwenkte über den Garten und erfasste das auf dem Klapptisch ausgebreitete Festmahl und das trinkende, lachende, schwatzende Publikum. Rhonda unterhielt sich in ihrem weißen Nachthemd mit Aggie – das, was Aggie sagte, schien Rhonda sowohl schrecklich verlegen als auch ängstlich zu machen. Und dann ertappte die Kamera Peter und Lizzy bei einem leisen Streit. Peter hielt mit der Hand Lizzys Arm umklammert. Er beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Lizzy schüttelte den Kopf, aber Rhonda konnte nur die Worte «Ich kann nicht» aufschnappen. Sie beobachtete, wie Peter Lizzys Arm fester packte und leicht verdrehte. «Du wirst», sagte er fest. Dann zoomte die Kamera das Mädchen im Glöckchen-Kostüm heran und zeigte, wie es Kuchen aß – das Näschen und das kleine Kinn vollständig mit Zuckerguss bedeckt.
Als der Film zu Ende war, erzählte Rhonda Warren von ihrem Traum. «Es kommt mir so vor, als wäre ich irgendwie schon seit Jahren hinter dem Hasen her», sagte sie.
Warren nickte. «Vielleicht holst du ihn ja bald ein. Auf was beziehen sich die Zettel in deinem Traum?»
Rhonda strich sich über die Narbe auf der Stirn. «Das ist eigentlich albern. Wir haben
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