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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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des Todes. Sie steht zwischen den anderen allein, herausfordernd und rau, wie ein Indianer aus den Amazonaswäldern, ein Überlebender von Massakern und Plünderungen. Wie ein Indianer, der sämtliche Erfahrungen und Erkenntnisse schon hinter sich hat und nun seinem Gegner aus lauter Übermut ein Schnippchen schlägt, indem er gelebt hat, gestorben, aber schon wieder da ist.
    In allen Berichten, die sich mit der Tragödie von Clipperton befassen – dem von María Teresa Arnaud de Guzmán, dem von General Francisco Urquizo und dem vom Schiffskapitän H.P. Perril –, findet Tirsa ausdrückliche Erwähnung. Sie wird als Ehefrau von Leutnant Secundino Ángel Cardona eingeordnet und hieß folglich Tirsa Rendón de Cardona.
    In der Militärakte des Leutnants liegt ein von Cardona selbst unterschriebener Brief, in dem er seine Ehefrau namentlich erwähnt. Er verlangt, dass man ihr in der Hauptstadt der Republik 15 Pesos pro Woche aushändigt, die seinem Sold abzuziehen seien. Der Name der hier angeführten Ehefrau lautet allerdings nicht, wie erwartet, Tirsa Rendón de Cardona. Er lautet María Noriega de Cardona. Also hat entweder Tirsa Rendón gar nicht so geheißen, sondern sie war in Wirklichkeit María Noriega, oder Tirsa Rendón war gar nicht Leutnant Secundinos Ehefrau.
    Die zweite Variante erweist sich als die richtige, wie es eine Reihe von Dokumenten am Ende von Cardonas Akte belegen. Darunter ein etliche Jahre später (sogar nach Cardonas Tod) verfasster Brief. Darin verlangt »María Noriega, verwitwete Cardona«, die angibt, im größten Unfallkrankenhaus der Stadt als Schwester zu arbeiten und zwei Kinder zu haben, vom mexikanischen Präsidenten die Pension ihres verstorbenen Ehemanns. Die Verwirrung der Identität beider Frauen bleibt in der Antwort an die Witwe ungelöst: »Señora María Noriega ist mitzuteilen, dass sie eine Abschrift ihrer Heiratsurkunde mit dem verstorbenen Hauptmann Secundino Ángel Cardona vorlegen möge, da die von diesem Sekretariat durchgeführten Nachforschungen über die letzte auf der Insel Clipperton stationierte Truppe ergeben haben, dass Teresa Rendón die Ehefrau des benannten Hauptmanns war, die über die dortigen Geschehnisse als Zeugnis aussagte.«
    María Noriega muss wohl die verlangte Heiratsurkunde geschickt haben, da ihr letzten Endes die Pension zugesprochen wurde, womit die Rechtmäßigkeit ihrer Verbindung zu Cardona bewiesen wäre. Allerdings wurde genauso bewiesen, dass die Frau, die mit Secundino Cardona zusammenlebte, bis dass der Tod sie schied, nicht seine legitime Ehefrau war, sondern die erwähnte »Teresa Rendón«, eine Verdrehung des Namens Tirsa Rendón.
    Die Sachlage ist also klar. Secundino Ángel Cardona ehelichte die Krankenschwester María Noriega, von der er zwei Kinder hatte. Die Wechselfälle seiner militärischen Laufbahn führten jedoch dazu, dass er sie an irgendeinem undefinierten Punkt seiner vielen Raubzüge verließ und sich mit Tirsa einließ, die ihm fortan folgte – bis nach Clipperton. Zu diesem Zeitpunkt muss Tirsa Rendón also, wie die anderen Frauen der Soldaten von Clipperton, eine soldadera gewesen sein, eine Soldatenfrau.

Clipperton
    – 1914 –
    Unter dem Blech des Guano-Schuppens war das Toben des Orkans gedämpft und erträglicher als draußen, wo er die Insel mit den letzten, müden Hieben seines wütenden Schweifs peitschte. Männer, Frauen und Kinder warteten hellwach darauf, dass der neue Morgen, der sich schon zaghaft ankündigte, endlich den Himmel aufriss und der Raserei von Wind und Wellen ein Ende setzte.
    Indessen vibrierte, kaum wahrnehmbar, ein Pfiff in ihren betäubten Ohren. Ein schriller, weiblicher Ton, wie von einem Sopran, von einer Schiffs- oder einer Meeressirene. Ein Brustton in »C«, der in der stickigen Luft des Schuppens schwebte, präsent nur in den Momenten, wo das Blechdach schwieg. Ein Rufen, ein Drängen, aber gleichzeitig ein unwahrscheinliches, irreales Geräusch, das die Überlebenden von Clipperton hörten, ohne es zu hören, und niemand wäre auf die Idee gekommen zu fragen, was das war. Es war eins der vielen unbegreiflichen und unabänderlichen Phänomene, die mit dem Wirbelsturm einhergingen, und fertig.
    Leutnant Cardona lag gut zugedeckt in einer Ecke auf einem Strohsack. Sein bittersüßes Grinsen ließ einen Mundwinkel abkippen und die weißen Zähne des Chamula-Indios sehen. Der Todesschmerz seines zertrümmerten Beins brüllte stumm unter der Wirkung der Morphiums, das ihm

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