Die Insel der Verlorenen - Roman
Frage unter den gegebenen Umständen war.
»Ja, mein Hauptmann!«, lautete die Antwort. »Kommen Sie und sehen Sie selbst.«
Alle folgten Victoriano zum Eingang der Leuchtturmwarte. Der Schwarze gab der Tür einen Stoß, damit Hauptmann Arnaud eintreten konnte. Nach mehreren Sekunden stellten sich dessen Pupillen auf das Halbdunkel in der Höhle ein. Da sah er sie.
Dicht an dicht lagen sie da und schliefen mit Haaren, so golden wie bei den Holzschnitzereien an den Kolonialaltären, neun Männer, eine Frau und zwei Kinder. Selbst im Liegen war die Größe der Erwachsenen kaum zu übersehen. Die Männer trugen lange gelbe Prophetenbärte, während die Haut der Frau so durchsichtig war, dass man, wie bei einer Landkarte, den Verlauf der violetten Venen an Armen und Beinen verfolgen konnte.
Arnaud betrachtete ungläubig diese wundersamen, vom Himmel gefallenen Wesen. Wie die einst von den Azteken in ihren alten Weissagungen angekündigten weißen Götter. Allerdings waren ihre durchnässten Kleider und die Erschöpfung, die ihnen anzusehen war, alles andere als göttergleich. Im Gegenteil. Ihr verlorener, trostloser Anblick war eindeutig der von Menschen.
»Und die, wo kommen die denn her?«, hob Arnaud an, nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte.
»Sie können sich nicht christlich ausdrücken«, erwiderte Victoriano, »aber ihr Schiff ist da hinten untergegangen.«
Der Schwarze zeigte zum Meer, und Arnaud sah, etwa eine Meile vom Strand entfernt, einen Schoner mit drei Masten, gekentert und fast vollständig im Wasser versunken. Der Pazifik strahlte an diesem Morgen so viel Sanftmut und Frieden aus, dass das Schiff aussah, als hätte es sich schlafen gelegt, genauso wie seine Mannschaft.
»Ich habe die ganze Nacht die Schiffssirene im Unwetter herumirren hören«, fuhr der Soldat fort. »Uuuuuu, uuuuuu hat sie geheult wie eine Seele im Fegefeuer. Mir haben sich die Nackenhaare gesträubt. Uuuuuu, das klang so traurig, und so schrill, uuuuuu. Ich dachte, dass da draußen die Heulsuse aus den Ammenmärchen herumgeistert und unser Unglück bejammert.«
Als er Victoriano das sagen hörte, tauchte in Arnauds Erinnerung wieder jener beängstigende Ton auf, der ihm stundenlang zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder herausgegangen war, ohne dass sein Gehirn ihn wirklich registriert hätte.
»Siehtaus,alshättensiesichimOrkanverirrt«,redeteVictorianoÁlvarezweiter,»undhättenvomLeuchtfeuerangelocktaufClippertonzugehalten.Sojedenfallshabeichesmirzusammengereimt,meinHauptmann,obwohlichvondem,wassiemirerzählthaben,keinWortverstanden habe.Bestimmthabensiegedacht,dasssiehierunterkommenkönnen.Ja,daswarsicherso.Unddannkam,waskommenmusste:SiesindamRiff aufgelaufen undvornArschgegangen.AlsdasSchiffuntergegangenist,habensiesichimDunkelnüberWassergehaltenunddieKinderfestgehalten,damitdienichtertrinken.Sowird’sgewesensein.DenRestderNachtmüssensiesichandiePlankengeklammerthabenwieÄffchenundheuteMorgensindsieansUfergeschwommen.DahabeichsiegesehenundihnenanLandgeholfen.AberdieGeschichteerzählendieIhnenbesserselber,wennsieaufwachen,Hauptmann.Ihnen,Señor,dersovieleSprachenkannundsiesicherversteht.«
Ramón Arnaud empfand Mitgefühl für das Häuflein blonder Sonderlinge, die mehr bewusstlos als schlafend zu seinen Füßen lagen.
»Das Schicksal hat manchmal Ideen«, sagte er schließlich kopfschüttelnd und zu kraftlos, um Dramatik in seinen Ton zu legen. »Es nimmt uns auf einen Schlag unser Essen und beschert uns zwölf zusätzliche Mäuler zum Stopfen.«
Mexiko-Stadt
– heute –
Ich beschäftige mich mit Tirsa Rendón, indem ich alte Romane und Dokumente vom Beginn des Jahrhunderts lese, um etwas über die Soldatenfrauen in Erfahrung zu bringen. Es gibt nicht viel, was über sie geschrieben worden ist. Sie waren die Hündinnen des Krieges. Heldin und Hure in einem, marschierten die Soldatenfrauen mit der Truppe und folgten ihren juanes zu Fuß, während die Kerle Pferde hatten.
Manche waren in der Liebe launisch und schlüpfrig, schliefen für ein paar Pesos mit einem Mann und verließen ihn am nächsten Morgen. Manche waren treu und blieben bis in den Tod, riskierten ihr Leben, um ihm einen Schluck Wasser zu bringen, stahlen oder zettelten Messerstechereien an für ein Huhn, das sie ihm zu essen gaben. Sie waren die Frauen der Truppe, die Töchter des rauen Lebens. Verdreckt, zerlumpt und betrunken waren sie, wie ihre juanes . Tapfer und zärtlich wie sie.
Sie hatten viele Aufgaben, waren
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