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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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wegzuräumen, aber der Balken blieb eisern im Fels verkeilt und auf Cardonas Bein liegen. Dieser jammerte hin und wieder mit schwächer werdender Stimme.
    Dann vernahmen sie allmählich wieder das Tosen. Zunächst verhalten, wie das Pochen eines aus dem Takt geratenen Herzens, dann dringlicher, wie ein ferner Trommelwirbel. Sanfte Windböen erfrischten ihnen die schweißnassen Stirnen.
    »Da«, sagte Cardona. »Es fängt wieder an.«
    »Wir haben noch etwas Zeit, und der Balken gibt schon nach, warte ab.«
    »Das stimmt nicht. Lass uns lieber noch eine Kippe rauchen, dann machst du weiter, wenn du dich ausgeruht hast.«
    Ramón war einverstanden, weil er nicht nur mit den Kräften am Ende war, sondern auch mit der Überzeugung, dass er den Balken je würde wegheben können.
    »Habe ich dir schon mal erzählt«, fragte Cardona, »dass die Luft in San Cristóbal de las casas süß und leicht ist und immer nach frisch gehacktem Holz riecht?«
    »Ja. Das hast du mir schon oft erzählt.«
    »Stimmt. Also gut, geh jetzt, Ramón, hier ist nichts mehr zu machen. Pech.«
    »Nein, Bruder, ich werde nicht gehen. Erzähl mir von der Luft in San Cristóbal, während ich die Sache hier in Ordnung bringe. Du musst jetzt tapfer sein, Cardona, weil ich dem Balken mit Fußtritten den Garaus machen werde, da wirst du nur noch Sterne sehen, die ganze Milchstraße.«
    Arnaud legte sich flach auf den Leutnant, indem er den einzigen noch vorhandenen Raum in der Kuhle einnahm. Er winkelte die Beine an, setzte die Füße an den Balken und drückte mit der ganzen Kraft seines übel zugerichteten Körpers dagegen.
    Cardona heulte auf, da ließ Ramón von ihm ab.
    »Hör auf«, flehte der Leutnant, »du bist gerade dabei, meinem Bein den Garaus zu machen, und nicht dem Balken, weil der sich nicht rührt. Wenn ich sterben soll, dann in Frieden und nicht unter Schmerzen wie ein Märtyrer.«
    »Ich habe dir doch gesagt, dass du tapfer sein musst. Ich weiß, dass ich dich hier raushole, mit oder ohne Bein.«
    »Wie die Eidechsen«, flüsterte Cardona, und seine Stimme war nur noch ein Hauchen, »die ihren Schwanz abwerfen, um lebend davonzukommen.«
    »Da hast du wirklich einen Spleen, dass du immer die Tiere als Beispiele herholst.«
    Ramón wiederholte das Manöver und vor lauter Anstrengung schwindelte ihm schon der Kopf, als mit Macht die erste Welle in die Grube schwemmte und sie alle beide bedeckte, ihnen Nase und Lungen versiegelte, dass ihnen Herz und Ohren fast zersprangen, und sie für eine Zeit, die ihnen endlos vorkam, untertauchte und ihnen die Luft abschnitt.
    »Schade, wir sterben«, dachte Ramón Arnaud.
    Aber sie starben nicht. Die Welle zog sich mit dem gleichen Ingrimm wieder zurück, mit dem sie angerollt war, riss ihre Körper hoch und schwemmte den Schutt weg. Da geschah es: Es waren nur die Bruchteile eines Zentimeters, aber Secundino Ángel Cardona spürte, dass die zentrifugale Kraft des Wassers den Balken bewegte und den Druck linderte.
    »Jetzt oder nie!«, schrie er, spuckte Salzlake und zerrte mit einem schonungslosen Ruck an seinem Bein, befreite es und kroch zum Eingang der Höhle.
    Ramón Arnaud folgte ihm.

Mexiko Stadt
    – heute –
    Das Foto von Tirsa Rendón de Cardona wurde aufgenommen, nachdem die Geschichte von Clipperton endlich vorbei war. Die Spuren der Tragödie sind deutlich darauf zu erkennen.
    Die Frau wurde aus einiger Entfernung und in einer Gruppe vom Sucher anvisiert, so dass man nur ihr Gesicht sieht. Sie trägt das sehr glatte Haar ohne Sorgfalt zu einem Rundschnitt gekürzt, der Pony fällt ihr in die Stirn und wird auf den Seiten länger, reicht aber nur mit Mühe über die Ohren. Das, und die Tatsache, dass ihre ohnehin dunkle Haut außerdem sonnengebräunt ist und, dass sie ein leicht männliches Aussehen hat, geben ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit bestimmten indigenen Völkern des Amazonas. Was keineswegs heißen soll, dass sie hässlich wäre. Sie hat ein sehr attraktives Gesicht von unaufdringlicher Schönheit, das unter den übrigen hervorsticht.
    Es sind die Augen, die die Aufmerksamkeit des Betrachters anziehen. Der starke Kontrast zwischen weißer Iris und schwarzer Pupille, die Reife ihres Blicks, die Arroganz der herabgezogenen linken und gehobenen rechten Braue. In dem Augenblick, als das Foto aufgenommen wurde, sah Tirsa hart und primitiv aus, nicht aber naiv. Sie wirkt jedenfalls nicht überrascht, weder vom Fotografen noch vom Leben und auch nicht von der noch spürbaren Nähe

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