Die Insel der Verlorenen - Roman
Hauptmann Arnaud gespritzt hatte. Neben ihm hockte seine Frau Tirsa Rendón und musste die vom Schweiß durchtränkten Tücher so häufig auswringen, dass es schien, als wollte das flüssige Element diesen Körper über Stirn, Achseln und Rücken vollends verlassen. Als wollte der Mann an Dehydrierung sterben.
Auch Cardona vernahm, vor Schwäche und von den Betäubungsmitteln benommen, auf seiner Gratwanderung zwischen Diesseits und Jenseits jenen außerirdischen Klang und träumte, dass Frauen mit freundlichen Brüsten und Engelsstimmen ihm das Leiden mit Wiegenliedern versüßten, die sie ihm ins Ohr säuselten.
Stunden zuvor, als der Orkan noch verbissen tobte, waren der Hauptmann und der Leutnant wie zwei Gespenster im Lagerschuppen aufgetaucht. Nackt und erschöpft kamen sie, wie der aus den Fluten gerettete Moses, aus der Furcht erregenden Nacht ins Trockene, dazu starr vor Schreck. Wenn sie es geschafft hatten, die Insel zu überqueren und sich dem Vernichtungsimpuls der Natur zu widersetzen, dann nur, weil sie den Tod auf Schritt und Tritt mit einem allerletzten rettenden Tropfen Adrenalin hinauszuschieben vermochten.
Zusammen zerrten sie Cardonas zermalmtes Bein mit, als handele es sich um einen Dritten, einen schweren, geschwollenen Todeskandidaten, den sie aus dem Unwetter bergen mussten. Sobald sie in Sicherheit waren, nahm Arnaud den Kampf mit diesem Klumpen Blut und Knochen auf, der kaum wiederherzustellen schien. Dabei brachte er zunächst die Instrumente seiner Ambulanz zum Einsatz, und als er damit nicht weiterkam, das Werkzeug aus dem Schuppen.
Während Cardona jaulte und von Sirenen delirierte, setzte Arnaud Zangen und Brechstangen ein, um den Oberschenkelknochen in die Beckenpfanne zurückzuschieben, um das abwärts gedrehte Knie zu justieren, um das zerquetschte, verletzte organische Material wieder in eine menschliche Form zu bringen.
Er hätte sicher wenig ausgerichtet, wäre nicht Tirsa Rendón mit ihrer unglaublichen Kaltblütigkeit und ihrer männlichen Kraft bei ihm gewesen, um ihn zu unterstützen. Blutverschmiert wie eine Metzgerin oder eine Priesterin, assistierte sie ihm Minute für Minute, ohne Ekel und ohne Ohnmacht; half ihm Sehnen entwirren, Knochen zurechtlegen und mit Nadel und Faden das Gewebe zusammenflicken, wie man im Hexenstich eine Tischdecke stickt.
Am Rande der Erschöpfung und am Ende seiner laienhaften chirurgischen Kenntnisse angelangt, schiente Arnaud das Bein und legte den Verband an, und dann, ja erst dann und keine Sekunde früher, nahm er Alicia in den Arm, küsste seine Kinder, zog das Wenige aus, was ihm noch am Leib klebte, und wickelte sich in eine schwere Häkeldecke, die seine Frau in ihrer Truhe gerettet hatte. In das weiße Tischtuch gehüllt, rief er, wie ein tragischer Held, die Namen der Inselbewohner auf und zählte die Anwesenden durch: elf Männer, zehn Frauen und neun Kinder. Die Mexikaner waren wie durch ein Wunder vollständig, es fehlte nur Victoriano Álvarez, der wahrscheinlich im Leuchtturm Wache hielt. Es gab mehrere Quetschungen und andere Verletzungen, aber, bis auf Secundino Cardonas Bein, nichts Schwerwiegendes.
Und sie vermissten noch jemanden, den einzigen Ausländer, der die Insel noch nicht verlassen hatte: Gustavo Schultz. Leutnant Cardona hatte am Vortag im matten Morgenlicht gesehen, wie er den Himmel begutachtete. Er hatte den Zeigefinder nach oben gestreckt und prognostiziert:
»Orkan.«
Dieses letzte Bild seiner kräftigen Gestalt im dunklen Licht des aufziehenden Morgens hatte sich dem Leutnant ins Gedächtnis eingegraben. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen.
»Vielleicht ist er tot … «, sagte jemand.
Ramón Arnaud war jedoch überzeugt, dass das nicht der Fall war, und lief rot an vor Wut bei dem Gedanken, dass sich der Deutsche, statt ihnen zu helfen und alle in Sicherheit zu bringen, einfach aus dem Staub gemacht und mit seinem Mädchen in die soliden Wände seines Hauses verkrochen hatte. Arnaud stellte ihn sich vor, wie er jetzt in diesem Moment, trocken, warm und tief schlummernd in seinem Bett lag, und ihn beschlich eine Empfindung, die dem Hass nicht unähnlich war.
Familie Arnaud versammelte sich. Unterbrochen vom ersterbenden Getöse des Wirbelsturms, vom Donnern des Daches, vom Weinen der Kinder und von den unruhigen Geräuschen der verängstigten Tiere fielen sich Ramón und Alicia gegenseitig ins Wort, um dem anderen von den Ereignissen der letzten Stunden zu berichten und die Fragmente der beiden
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