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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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lückenhaften Geschichten im Telegrammstil zu einer einzigen zusammenzufügen. Ramoncito, der alles wissen und kein Komma verpassen wollte, unterbrach sie fortwährend, um zu fragen, was war da, womit hast du dir wehgetan, wo bist du hingefallen, wer, warum, wie.
    »Da klopft jemand«, ließ sich eine Stimme vernehmen.
    Sie öffneten die Tür des Schuppens, worauf ein Schwall Wasser eindrang und mitten im Wasser, Daría Pinzón und ihre Tochter Jesusa Lacursa.
    »Wo ist Schultz?«, forschte Arnaud, nun weniger sicher, die Antwort zu kennen.
    »Er ist durchgedreht«, erwiderte Daría Pinzón.
    »Ich habe dich nicht gefragt, was er ist, sondern wo er ist.«
    »Er ist irgendwo, verrückt geworden. Sein Haus fliegt in die Luft, aber er hat die ganze Nacht im Freien verbracht und darum gekämpft, die Bahn und die Anlage und diese ganzen unnötigen Gerätschaften zu schützen, die die Gesellschaft hiergelassen hat. Genauso wie ihn, ihn haben sie doch auch einfach auf dieser Insel sitzen lassen, aber das ist ihm egal. Und mich, mich kann der Sturm ja ruhig wegfegen, das ist ihm nämlich auch egal. Er kümmert sich nur um die Sachen der Gesellschaft, als wären das seine Kinder«, zeterte Daría nah am Nervenzusammenbruch, ohne ihre Rede bremsen zu können. »Er ist verrückt geworden, glaub mir, Hauptmann, dieser Gringo hat den Verstand verloren. Sie haben ihn nach Clipperton gebracht, damit er Guano sammelt, und er will jetzt Guano sammeln, obwohl gar kein Guano mehr da ist und auch kein Clipperton und keine Gesellschaft … «
    »Sei jetzt still, Daría«, bat Arnaud sie sanft. »Geh und lass dir einen warmen Kaffee geben und such dir und deiner Tochter ein trockenes Plätzchen.«
    Die Frauen hatten Feuer angezündet und legten Teigklöße hinein. Jemand stimmte auf einer Gitarre ein seltsames Lied über eine Kakerlake an, die sich mit dem Gehen schwertut. Mehrere Männer saßen auf einem grauen Wollumhang vom Militär und übten sich im Wortwitz, albur genannt, als wäre nichts passiert und würde auch nichts passieren. Man hörte sie in regelmäßigen Abständen lauthals die aufgedeckten Karten ausrufen:
    »Zwei fürs Rheuma und die Kotzerei.«
    »Fünf Sterne, dahin legt man sich gerne.«
    »Vier Beine hat der Tisch und der Mann drei.«
    »Sechs Bomben bringen mehr.«
    Indessen drang der hohe Pfeifton weiter durch die Dachritzen, ohne dass ihn jemand hörte, untergründig und verschwommen, und dabei unerbittlich wie die ferne Trompete des Jüngsten Gerichts.
    Der Orkan war vorbei, als am nächsten Morgen die Sonne aufging. Da verließen die Leute den Schuppen, langsam, vorsichtig, wie scheue Tiere, die nach dem Winter aus der Höhle kriechen, vom Licht geblendet und noch benommen vom viel zu langen Schlaf. Spontan bildete sich eine übernächtigte Prozession über die Insel, angeführt von Ramón, in andächtigem Schweigen, ohne ein Wort über die Verwüstung zu verlieren, die sich ihren Augen darbot. Der Gemüsegarten mit seiner schwarzen Muttererde, die Gebäude, der Kai, die menschliche Arbeit von Jahren, alles war verschwunden und jede Spur einer Zivilisation wie weggeblasen.
    Auch der Guano war verschwunden. Tonnen von Exkrementen, die seit Jahrhunderten eine Vogelgeneration nach der anderen auf der Insel hinterlassen hatte, waren ins Meer gespült worden. Blank gefegt und von der weichen schwärzlichgrünen Schicht befreit, die es wie eine zweite Natur bedeckt hatte, stellte das entblößte Gestein, aus dem Clipperton bestand, ein erbarmungslos beinernes Weiß zur Schau. Himmel und Meer strahlten eine gloriose Ruhe aus, einen ungetrübten Frieden, während Clipperton rein, leer und jungfräulich wie am ersten Schöpfungstag mitten im Universum lag. Landkrabben und Tölpel waren wiederaufgetaucht, zu Dutzenden, zu Hunderten, als hätten sich die Populationen in ihrer Abwesenheit verdreifacht. Selbstsicher und erhaben wimmelten sie, als Herren und Herrscher des zurückeroberten Territoriums, auf dem nackten Fels herum.
    Die Männer gingen zum Südufer und sahen den Leuchtturm unversehrt auf dem Gipfel des Felsens prangen.
    »Wenigstens ist der stehengeblieben«, bemerkte Ramón Arnaud mit einer Grabesstimme, die nicht seine eigene war.
    Der schwarze Victoriano Álvarez kam ihnen entgegen. Die Farbe seiner Haut war zu einem Aschgrau erloschen, wogegen seine Augen ungewöhnlich hell phosphoreszierten.
    »Gibt es was Neues, Soldat?«, fragte Arnaud und verzog den Schnauzer, als er sich eingestand, wie absurd diese

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