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Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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zuweilen klang sie menschlich, dann wieder nicht.
    »Vielleicht braucht jemand Hilfe«, dachte er. »Oder der Wind pfeift, um mich zu täuschen. Oder es ist eine Sirene. Eine unglückliche Sirene, die will, dass ich sterbe.«
    Als wollte es seine Zweifel vertreiben, war das Rufen jetzt deutlich zu verstehen:
    »Ich bin es, Ramón. Hilf mir.«
    Das war die Stimme von Leutnant Cardona.
    »Bist du es, Cardona?«
    »Ich bin es Ramón, hier rechts von dir.«
    »Bist du hier, Cardona?«
    »Ja, hier unter den Trümmern.«
    »Kannst du mich sehen?«
    »Ja, ich kann dich sehen. Ich bin rechts von dir, Ramón.«
    »Wo?«
    »Unter den Baumstämmen.«
    »Ich kann dich nicht sehen, aber ich höre dich.«
    »Weil endlich der Wind nachgelassen hat.«
    Erst da merkte Ramón, dass der Wind plötzlich verstummt war, und wo vorher Raserei, Lärm und Chaos geherrscht hatten, stellten sich mit einem Mal Ruhe, Abwarten und Stille ein. Das Meer war in sein Bett heimgekehrt und sank in sich selbst zurück, als befände sich an seinem Boden ein Riesenabfluss. Der Wind hatte jetzt gänzlich ausgesetzt und eine dichte warme Substanz hinterlassen, die sich weigerte, in Mund und Nase einzudringen.
    Etwas Täuschendes, Bedrohliches lag in diesem plötzlichen Stillstand. Ramón näherte sich einer Ausbuchtung am Fuß des Felsens, dort, wo dieser mit dem Strand einen Winkel formte. Diese Nische bildete einen Hohlraum und alles, was der Wirbelsturm anderswo ausgerissen hatte, war darin hängengeblieben. Dort angelangt, fing Ramón an, auf gut Glück zu graben, weil er den Leutnant unter all dem Schutt schwer atmen hörte.
    »Vorsicht«, sagte Cardona, »mein Bein ist unter irgendwas Schwerem eingeklemmt.«
    Jetzt erahnte Ramón die Umrisse, Kopf und Torso des Leutnants, wie ein dunkles Bündel in einer Kuhle zwischen den Trümmern, als liege er in einer Luftblase. Er konnte das linke Bein sehen, das verrenkt in einer unmöglichen Stellung unter einem großen Balken klemmte, der seinerseits mit einem Haufen im Dunkeln undefinierbarer Gegenstände zugeschüttet war.
    »Das Bein«, sagte Ramón, »das wird wohl Matsch sein.«
    »Hilf mir, hier rauszukommen.«
    Ramón versuchte nach allen Regeln der Kunst und mit aller Kraft den Balken zu heben, ohne ihn auch nur einen Zentimeter von der Stelle bewegen zu können.
    »Was ich nicht verstehe«, sagte er, »ist, wie du dich hier eingegraben hast.«
    »Ich verstehe es auch nicht. Aber zieh mich erst mal hier raus, dann erkläre ich es dir.«
    »Warte. Vielleicht kann ich mich irgendwo abstützen.«
    Ramón unternahm einen erneuten Versuch und stemmte den Rücken gegen die Felswand, um ihn als Brechstange einzusetzen, richtete allerdings genauso wenig aus wie zuvor. Er mühte sich eine ganze Weile ab, mit dem einzigen Ergebnis, dass der Balken, beim Verlagern des Schutts, noch mehr Druck auf Cardonas Bein ausübte, der stöhnte und mehrmals kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren.
    »Hör auf, hör auf, Ramón, lass das, du bringst mich um. Ich habe in meiner Jackentasche noch Zigaretten, lass uns eine rauchen, ehe wir weitermachen.«
    Ramón suchte und fand sie.
    »Das gibt’s nicht«, sagte er, »die sind trocken.«
    »Ein Wunder.«
    Es waren auch Streichhölzer dabei und Hauptmann Arnaud zündete eine an. Die Luft stand so still, dass das Flämmchen brannte, ohne dass er die Hand darumlegen musste. Als er Cardona das Feuer an die Zigarette hielt, sah Ramón endlich dessen Gesicht. Ein unbekanntes Gesicht. Seine schmerzverzerrte, von Verzweiflung gezeichnete Miene machte den Leutnant zu einem anderen, als wäre der Mann, der da vergraben lag, sein älterer Bruder, ein Bruder, der ihm zwar ähnlich sah, aber alt und bekümmert war.
    »Meine Güte, Junge, bist du blass«, sagte Arnaud.
    »Vielleicht ist das die letzte Zigarette, die wir zusammen rauchen«, murmelte Cardona und spürte den inhalierten Rauch bis in seine Seele vordringen.
    »Glaub ich nicht, weil noch drei da sind, und die sind zum Glück auch trocken«, gab Ramón zurück.
    »Ich will damit sagen, dass dies das Auge des Wirbelsturms ist. Ist dir das klar? Der Sturm und der ganze Radau, das geht gleich wieder los. Dann wird das Loch hier mit Wasser volllaufen und du bist draußen, während ich hier drin verrotte.«
    »Nein, Secundino, niemals. Beide lebendig oder beide tot.«
    Arnaud rackerte sich in der Finsternis weiter ab, diesmal verzweifelter als zuvor. Nach einer Weile war es ihm gelungen, viele von den kleineren Hindernissen

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