Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der Verlorenen - Roman

Die Insel der Verlorenen - Roman

Titel: Die Insel der Verlorenen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
Vom Netzwerk:
lauthals, zog mit der einen Hand die Hosenbeine nach oben und schlug mit der anderen ins Nichts, als sich die Wassermassen bis zu ihm vorschoben, ihn aufhoben und mehrere Meter weit trugen, um ihn schließlich gegen die Flanke des großen Südfelsens zu werfen. Dann zogen sie sich wieder zurück und ließen ihn auf einer der Treppenstufen liegen.
    ArnaudhusteteundspucktealldasgeschluckteWasserausundalserwiederLuftbekam,versuchteer,höherzuklettern,weilerschonahnte,dassdienächsteWelleimAnrollenwarunddie,so vielstandfest,würdeihngnadenlosamFelsenplattdrücken.DiesmalhatteernochGlückgehabtundwarbehutsamgelandet,wennauchausGründen,dieersichnichterklärenkonnte,aberbeimnächstenAngriffderFlutwürdeerallerVoraussichtnach,wieabertausendeFossilien,dieimSteinihreletzteRuhestattgefundenhatten,diesemaufgeprägtwerden.
    Indessen verbrachten Frauen und Kinder und Tiere Stunden im Guano-Schuppen neben dem Kai, mehr oder weniger in Sicherheit vor der außer Rand und Band geratenen Natur. Anfangs hatten sie mit Brettern und anderem Material, das sie dort fanden, Ritzen und Löcher zugestopft, um Wind und Wasser am Eindringen zu hindern. Nachdem das, so gut es eben ging, bewerkstelligt war, versammelten sie sich in der Mitte des Schuppens, setzten sich in einen großen Kreis und rückten immer dichter zusammen. Eine ganze Weile schwiegen sie, fast taub vom unerträglichen Lärm des Daches, das über ihnen krachte und wackelte und jeden Moment abzuheben drohte, und vom lauten Weinen der Kinder, die um die Wette schrien.
    Eine von ihnen hatte angefangen, die Litaneien des heiligen Kreuzes herunterzubeten, die anderen fielen ein:
    »Wenn mich der Teufel in der Stunde meines Todes versucht, möge dein Erbe mich bergen, weil ich am Tag des heiligen Kreuzes tausendmal gesagt habe: Jesus, Jesus, Jesus, Jesus …
    Jesus, Jesus, Jesus, ohne Pause und ohne Luft zu holen, bis sie bei Hundert waren. Jesus, Jesus, in einem einzigen unendlichen, dumpfen Gemurmel, das beim Wiederholen allmählich zu susje, susje, jesus, jesus, jesus, jesus, chesus, chesus wurde. Eine zählte mit, und unterbrach sie bei Hundert mit dem Kehrreim: Wenn der Teufel mich in der Stunde meines Todes versucht … , dann setzte erneut das Geplätscher der leisen Stimmen mit weiteren hundert Jesussen ein, die wie rollender Kies und prasselnder Regen klangen, die kaum klangen, weil sie im lauten Sturmgetöse untergingen.
    Es war zwar nicht der Tag des heiligen Kreuzes – auch wenn das Datum auf Clipperton längst seinen Sinn verloren hatte – , aber dafür schien alles darauf hinzudeuten, dass »die Stunde des Todes« gekommen war. Weil ich am Tag des heiligen Kreuzes tausendmal gesagt habe: Jesus, Jesus, Jesus … , wiederholte Alicia, dachte aber in Wirklichkeit an Ramón und machte sich Sorgen, weil sie nicht wusste, wo er war. Schließlich waren sie inzwischen schon eine ganze Weile auf dem engen Raum der Insel zusammen, wo sich keiner von beiden, selbst wenn sie es gewollt hätten, mehr als fünfhundert Meter vom anderen entfernen konnte. Jetzt war es die Gefahr, die sie trennte, und Alicia wurde von einer Furcht überwältigt, die sie seit ihrer Jugend nicht mehr verspürt hatte. Damals hatte sie monatelang im Hof ihres Elternhauses in Orizaba gesessen und auf ihren Liebsten gewartet, vom Zweifel gequält, ob er je zurückkäme. Mit der neugeborenen Olga im Schoß, die in der nassen Windel gefangen mit einer für ihre Größe erstaunlichen Kraft brüllte, murmelte Alicia Jesus, Jesus, Jesus. Aber in ihren Gedanken sagte sie Ramón, Ramón, Ramón.
    Auf der anderen Seite der Insel klammerte sich Ramón unter dem Unheil verheißenden Himmel wie eine Fliege an den Felsen. Er war bereits kurz vor dem physischen und mentalen Kollaps, als er mit einem Mal eine Stimme zu vernehmen glaubte, die nicht seine eigene war. Ein Wimmern vielleicht, ein Schreien. Es kam von unten, aus der Dunkelheit, schwach und unterbrochen. Er erwog, bis zu der Stelle abzusteigen, aber dann sagte er sich, dass er dort der anrollenden Flut auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein würde. Diesen Gedanken schob er sofort beiseite, er musste hin, wie auch immer. Der Abstieg war riskant, überlegte er, und es war bestimmt nicht falsch, vor dem Versuch die steifen Muskeln zu lockern. Nachdem er sämtliche Gliedmaßen mit Müh und Not gestreckt hatte, ohne etwas Besonderes bemerkt zu haben, überwand er die ersten Meter abwärts. Obwohl er niemanden sehen konnte, wurde die Stimme jetzt dringlicher,

Weitere Kostenlose Bücher