Die Insel der Verlorenen - Roman
den ungesunden Atem der Krankheit.
»Victoriano?«
»Hier.«
»Ich bin es, Arnaud.«
»Zu Befehl, Hauptmann.«
Dieser stieß mit den Knien an die Hängematte, die diagonal von einer Ecke des Raumes zur anderen gespannt war. Darin lag der Mann.
»Mir tut der ganze Körper weh«, hörten sie ihn sagen. »Ich glaube, ich habe Rheuma. Rheuma, das bis in die Zähne geht, weil sie mir nämlich ausfallen.«
Ramón brauchte kein Licht. Es reichte ihm, den erschöpften Atem des Schwarzen zu hören, um sich die blauen Flecken auf dessen Haut und die Eiterpusteln in dessen Mund vorzustellen. Er kehrte am anderen Morgen zurück, behandelte ihn, flößte ihm Kokosbrei ein und trug Feldwebel Irras Frau auf, den Schwarzen zu versorgen.
Victoriano Álvarez jammerte von früh bis spät, nachts heulte er laut und wachte am Morgen auf wie der Gekreuzigte. Seine Haut war blau angelaufen und von Schwären überzogen, als wäre er verprügelt worden, sein Zahnfleisch blutete und sein Mund brannte von der eitrigen Entzündung. Alsbald breitete sich die Kunde von der Krankheit auf der ganzen Insel aus. Die Leute kamen zum Leuchtturm gelaufen, um ihn zu sehen, sie drängelten sich im Eingang der Behausung, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Die Kinder schlüpften herein und stellten sich im Kreis um die Hängematte.
Ein paar Tage ging das so, dann ließ Ramón alle vor dem Verschlag antreten, der ihnen früher als Apotheke gedient hatte, und hieß sie in Unterwäsche eine Schlange bilden, weil er sie untersuchen wollte. Er fand die Symptome bei einer Frau. Es war Irras Gefährtin, die Victoriano gepflegt hatte.
Von einem zum anderen ging das Gerede von der ansteckenden Seuche, und dass Victoriano Álvarez jeden damit infizierte, der sich ihm näherte. Arnaud gab sich redlich Mühe, die Dinge richtigzustellen. Er berief Vollversammlungen ein und erläuterte die Merkmale der Krankheit, ihre Symptome und ihre Ursachen. Er wiederholte bis zur Erschöpfung, dass sie nicht übertragbar sei und versuchte, sie mit Schaubildern zur Einsicht zu bringen, indem er einen Stock nahm und krumme Skizzen des menschlichen Organismus und seiner Funktionen und Störungen in den Boden kratzte. Trotz all dieser Anstrengungen vermochte er keinen Einzigen zu überzeugen. Der Name »Skorbut« blieb einfach nicht in ihrem Gedächtnis haften, stattdessen redeten sie weiter von der »Seuche«. Die Seuche, sagten sie und legten einen Fatalismus in dieses Wort, der jede Heilungsaussicht zunichtemachte. Auch das mit den Zitrusfrüchten nahmen sie ihm nicht ab: Die Krankheit war ansteckend, das war die einzige Wahrheit, die sie zu akzeptieren bereit waren. Außerdem brauchten sie einen Schuldigen und der sollte gewichtiger sein als eine Zitrone oder eine Apfelsine, die waren doch viel zu arglos, um ihnen die Verantwortung in die Schuhe zu schieben.
Auf ihrem geheimen Vormarsch verdarb die Krankheit die Körpersäfte bevor sie zum Ausbruch kam, vergor das Blut, säuerte die Galle, vergiftete den Schleim und brachte dabei finstere Passionen ans Licht. Die Erste war der Rassismus und Victoriano Álvarez wurde zum Sündenbock. Sie hassten ihn aus tiefstem Herzen, sie verfluchten ihn, weil er schwarz war, sie ächteten ihn, weil er ansteckend war, und forderten, ihn in Quarantäne zu sperren. Niemand wollte ihn pflegen, noch nicht einmal zum Felsen gehen und das Leuchtfeuer entzünden. Ramón gab dem allgemeinen Begehren nach und isolierte ihn, teils um den erhitzten Gemütern nicht noch Nahrung zu geben, teils, weil er fürchtete, sie könnten ihr Opfer am Ende lynchen.
In den darauffolgenden Tagen wurden viele gelb wie die Japaner und von einer patzigen, übellaunigen Faulheit befallen, so dass es ganz und gar unmöglich wurde, sie zu führen oder einer Disziplin unterzuordnen. Ramón wusste, was es damit auf sich hatte: Es waren die ersten Anzeichen der Krankheit, die nun auf die Gruppe übergriff. Mit Cardona versuchte er, die Apotheke wieder in Betrieb zu nehmen. Zunächst machte er eine Inventur der spärlichen Restbestände, bat die Frauen, Lappen zu waschen und auszukochen, und fuhr fort, in dem einst von der »Hand die zerquetscht« ausgeraubten Vorratslager Kokosnüsse zu horten, nachdem er Riegel und Schlösser verstärkt hatte. Er sorgte dafür, dass jedem, ohne Ausnahme, bei der Lebensmittelvergabe eine Portion Kokosnuss mit ausgeteilt wurde.
Der Skorbut breitete sich mit unerbittlicher Rasanz und dem Wuchern von Quaddeln, Pusteln, Flecken und
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