Die Insel der Verlorenen - Roman
Apfelsinen, Rosenkohl, Kresse, grüne Paprika, Brombeeren. Rettiche und Petersilie! Viel Rettich und viel Petersilie! Zuckerrüben, Pilze, Kirschen, Tomaten, Kokosnüsse … Kokosnuss, Kokosnuss, Kokosnuss!«
Kokosnüsse, die hatten sie. Es war die einzige Frucht, die auf der Insel wuchs, seit die Gartenerde erodiert war. Die Kokosnüsse waren seine Rettung, eine unerlässliche Quelle für Ascorbinsäure, um seinen Tod zu verhindern. Um vielleicht sogar den Tod aller Inselbewohner zu verhindern.
Er zog eine fadenscheinige Hose an und warf sich einen von den Frauen ausgebesserten Segeltuchponcho über. Dann bestieg er einen Kahn und überquerte die Lagune, indem er auf geradem Weg ans andere Ufer ruderte. Er erreichte die Stelle, wo die dreizehn Palmen standen. Bisher hatte sich jeder, der Lust auf eine Kokosnuss hatte, einfach bedient. Sie waren eben da, wie der Fisch und die Landkrabben, man brauchte bloß die Hand danach auszustrecken und sie zu nehmen.
Ramón sammelte die herabgefallenen Früchte auf und trug sie zum Kahn. Er überschlug die Erträge: In ihrem rachitischen Zustand würden die Palmen ungefähr fünf Nüsse pro Woche abwerfen, die millimetergenau unter den einundzwanzig Erwachsenen und neun Kindern aufgeteilt werden mussten. Er suchte Feldwebel Irra und erteilte ihm in aller Dringlichkeit einen Befehl, der den andern überraschte.
»Feldwebel, Sie sind verantwortlich für diese Kokospalmen. Sorgen Sie dafür, dass sie rund um die Uhr bewacht werden. Niemand darf die Nüsse berühren. Wenn eine einzige Kokosnuss fehlt, ziehe ich Sie zur Verantwortung.«
Darauf entfernte er sich, setzte sich auf einen Stein, schlug mit der Machete eine Nuss auf und trank die Milch. Während der nächsten zwei Tage versuchte er, sein geschwollenes Zahnfleisch mit häufigen Jodanwendungen unter Kontrolle zu bringen. Es wucherte jedoch nur noch mehr und behinderte ihn beim Essen. Obwohl er sich niemandem anvertraute, kam Alicia doch dahinter.
»Was isst du eigentlich, dass es aus deinem Mund riecht wie aus einem Teich«, wollte sie wissen.
Er musste ihr die Wahrheit beichten. Sie verabredeten, darüber Stillschweigen zu bewahren, um die Leute nicht zu ängstigen. Sie sonderten sich von den anderen ab und versuchten eine Behandlung. Mit den Desinfektionsmitteln, die von der Apotheke übrig geblieben waren, reinigten sie die in seinem Mund aufblühenden Pusteln – Methylalkohol, Enziantinktur, Jod, Wasserstoffperoxid, manchmal eins nach dem anderen, manchmal auch alles zu einem klebrigen, übel riechenden Stoff vermischt. Da Ramón nicht kauen konnte, bereitete Alicia ihm den Fisch in Breiform zu und raspelte ihm das Fleisch der Kokosnüsse dazu. Am Ende der ersten Woche waren die Fortschritte deutlich zu sehen.
»Ich dachte, dass niemand diese Krankheit überlebt, aber scheinbar stimmt das gar nicht«, stellte Ramón fest, war dem Wunder gegenüber aber noch skeptisch.
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
Sein Wort schien entweder Gottes Ohr erreicht zu haben oder die Kokosnüsse zeigten Wirkung, jedenfalls wurde Ramón wieder gesund. Bald darauf nahmen sie also ihre einfache Routine wieder auf, als wäre nichts gewesen, ließen die Kokospalmen aber weiter streng bewachen und hielten mehrere Dutzend Früchte fest unter Verschluss. Auch die abendlichen Zusammenkünfte mit Tirsa und Cardona fanden wieder statt.
»Der schwarze Victoriano probt wieder den Aufstand«, ließ sich die Stimme des Leutnants in der Dunkelheit vernehmen.
»Wiegelt er die Leute auf?«
»Nein, diesmal versteift er sich darauf, nichts mehr zu tun. Er verweigert sich und will nicht mal das Leuchtfeuer entzünden. Ich musste Pedrito Carvajal bitten, den Dienst zu übernehmen, weil der Schwarze nicht aus seiner Hängematte wegzubewegen ist. Alles Drohen ist vergeblich. Er sagt, wir könnten ihn ja erschießen, wenn wir wollten, aber dann genau dort, wo er liege, weil er nicht bereit sei aufzustehen.«
»Ist er vielleicht krank?«, fragte Alicia.
»Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Reine Faulheit, würde ich sagen.«
Die beiden Männer gingen zum Wärterhaus des Leuchtturms, um nach Victoriano zu sehen. Sobald Arnaud über die Schwelle getreten war, erkannte er den Geruch: derselbe, den sein eigener Körper noch vor wenigen Tagen ausgedünstet hatte. In der Höhle war es so finster wie in einem Wolfsbauch. Um sich zu orientieren, tastete sich Arnaud an den Wänden entlang, dabei stellte er fest, dass sie feucht waren. Sie verströmten
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