Die Insel der Verlorenen - Roman
denn Ramón Arnaud lernte, Vater zu sein. Er entdeckte seine Kinder: Zum ersten Mal im Leben wurde er sich der Existenz dieser drei Geschöpfe vollends bewusst, die inmitten aller Widrigkeiten ungehemmt und von ganz alleine gediehen, wie ein aus der Natur nicht wegzudenkendes Element. Er verbrachte ganze Tage mit ihnen auf Streifzügen über die Insel, beim Klettern auf dem Südfelsen oder beim Schwimmunterricht. Aus den Edelhölzern, die von der Nokomis und der Kinkora abgefallen waren, baute er ihnen kleine Schiffsmodelle, als getreue Abbilder großer Schoner. Damit gingen sie gemeinsam zur Lagune und setzten sie aufs Wasser, bis es dunkel wurde. Er zeigte ihnen die Sternbilder und nannte ihnen die Namen der Winde, da ihnen aber beim Zuhören schnell langweilig wurde, saß er oft einfach schweigend da und sah ihnen beim Spielen zu.
Ramón, Alicia, Tirsa und Cardona kamen allabendlich in der Dämmerung zusammen, damit keiner von ihnen allein sein musste, wenn die Finsternis die Insel mit einem Happen verschluckte.
»Wenn ich wenigstens noch meine Mandoline hätte«, jammerte Arnaud.
»Das hätte noch gefehlt«, widersprach Alicia.
»Sing, Secundino«, bat ihn Tirsa.
»Es geht nicht mehr. Das Salz hat meine Stimmbänder ausgetrocknet.«
Ohne sich zu sehen, leisteten sich die vier dann Gesellschaft, wiederholten stets die gleichen Dialoge und erweiterten damit den Radius ihrer durch alle Feuer gehärteten Freundschaft – von den kleinlichen Störungen des Alltags bis zu den großen Umwälzungen durch Katastrophen – noch ein Stück, um sich nicht bedrücken zu lassen von der endlosen Schwärze.
Sie vermissten Mexiko und ihre Familien, wenn auch mit einer immer abstrakteren und immer diffuseren Wehmut. Es kam der Tag, an dem sogar die hartnäckigsten Erinnerungen reif vom Baum fielen und sich auflösten. Ramón hatte eine Phase, in der er immerzu im Andenken an die Tugenden seiner Mutter schwelgte. Die Süßspeisen, die sie ihm bereitete, die Geschichten, die sie ihm erzählte, die Massagen, die sie ihm zur Rückenentspannung angedeihen ließ. Als er merkte, dass das Thema die anderen langweilte, ging er dazu über, immer und immer wieder ihre Briefe zu lesen. Anschließend schrieb er Gedichte über seine Sohnesliebe, wie dieses von General Urquizo in seiner Biographie der Arnauds veröffentlichte Sonett:
Sie ist eine alte Frau, deren Blick
mich betört, mich beglückt.
Sie ist eine unbefleckte Jungfrau,
der ich mein liebend Herz anvertrau.
Diese Obsession wurde so übermächtig, dass Alicia aufhörte, ihn bei seinem Namen zu rufen. »Das hier ist für den Sohn von Doña Carlota«, sagte sie stattdessen. »Da kommt der Sohn von Doña Carlota.« Bis sie eines Nachts, als sie im Bett lagen, Geräusche hörten, und Ramón durch das leere Haus lief, um nachzusehen, was los war. Nach einer Weile kam er ins Bett zurück.
»Es war Mama«, verkündete er. »Sie war in der Küche.«
»Was?«
»Es war Mama, habe ich gesagt.«
»Ramón, du spinnst … «
»Nein, ich spinne nicht, sie ist tot. Sie ist gestern gestorben und ist gekommen, um mir Bescheid zu sagen.«
Nach diesem Vorfall wurde ihr Name nie wieder erwähnt.
So war das letzte Jahr vergangen, Freud und Leid hatten Maß gehalten, und inmitten ihrer unzähligen Entbehrungen war es Ramón und Alicia beinah gut gegangen, waren sie beinah glücklich gewesen.
Dann brach der Skorbut aus. Mit seinem Hang zur Hypochondrie hatte sich Ramón endlos oft den eigenen Tod ausgemalt. Er neigte dazu, seine Pein vorwegzunehmen, und malte sich die abscheulichsten Dinge aus. Eine gewisse Phobie vor Feuer und Wasser vermochte er kaum zu verbergen, womöglich entsprang sie einer dunklen Vorahnung von seinem Ende durch Verbrennen oder Ertrinken. Aber er wäre niemals, auch nicht in den schlimmsten Augenblicken seines Selbstmitleids auf die Idee gekommen, wegen einer fehlenden Zitrone sterben zu müssen. Ein Königreich für eine Zitrone, dachte er.
Sein Organismus litt unter Vitaminmangel. Zitronensaft war alles, was er jetzt brauchte, um gesund zu werden; ein paar adstringierende, reinigende, saure Tropfen mussten jetzt her, um in seinem Körper die Fäulnis zu vertreiben, die sich schon darin angesiedelt hatte und ihm binnen kurzem aus den Poren treten würde. Ramón ließ sich aufs Bett fallen und begann zu murmeln, erst leise, wie eine Litanei, und dann immer lauter:
»Zitronen, Apfelsinen, Pampelmusen, Pomelos. Zitronen, Apfelsinen, Pampelmusen, Pomelos! Zitronen,
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